Im Druck
Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert
Von Doris
Marszk
Ostmitteleuropa
ist altes europäisches Kernland mit einer Vielfalt an Völkern, Sprachen,
Traditionen und Religionen, doch heutzutage gerät diese Region oft - zu Unrecht
- aus dem Blick. Der Historiker Joachim von Puttkamer unternimmt eine
Zusammenschau der Geschichte Ostmitteleuropas.
Er hatte
vor, eine "Synthese der jüngeren Geschichte Ostmitteleuropas zu
schreiben", sagt Joachim von Puttkamer im Vorwort zu seinem Buch "Ostmitteleuropa
im 19. und 20. Jahrhundert". Zu dieser Region gehören hier Polen, Litauen,
Tschechien (Böhmen, Mähren), Slowakien, Ungarn, Rumänien, Slowenien und
Kroatien (die natürlich nicht alle zu allen Zeiten diese Ländernamen hatten). "Diese
sollte nicht aus dem Nebeneinander herkömmlicher Nationalgeschichten, sondern
aus der Zusammenschau unterschiedlicher Entwicklungen und gemeinsamer
historischer Wurzeln der Region gebaut sein."
Im Prinzip
ist dem Autor dies auf dem engen Raum von knapp 250 Seiten gelungen. Er zeigt
auf, wie sich im Großen und Ganzen die einzelnen Nationalstaaten nach 1848
entwickelt haben. Gut gelungen ist auch das Kapitel über die "Aufbrüche in
die Industriegesellschaft". Der Autor zeigt die Gemeinsamkeiten mit den westlichen
Ländern in Bezug auf die industrielle Revolution auf, aber er streicht auch das
Besondere heraus, z. B. die Bedeutung des Adels in der polnischen Gesellschaft,
die sich dann auch auf die soziale
Schichtung während der industriellen Revolution auswirkte.
Sozial- und
Wirtschaftsgeschichtliches lässt sich jedoch ohnehin besser in großen Linien
darstellen als die politische Entwicklung in mehreren Staaten. In der
Geschichte gibt es aber auch Einzelereignisse oder spezifische Entwicklungen,
die sich ganz konkret in einem Land zu einer Krise oder Revolution auswachsen
können oder auch zum Besten eines Landes wirken können. Das Problem ist genau
dieser Spagat zwischen der Beschreibung der großen Linien einerseits und dem
Erklären der Ereignisse für den Leser, der noch am Anfang steht. Denn die Reihe
"Grundriss der Geschichte" ist für Studierende konzipiert, die sich
einen Überblick verschaffen wollen. So wird beispielsweise gleich am Anfang im
Kapitel "Adelsgesellschaft und ständischer Liberalismus" ein
Überblick über die gesellschaftlichen Entwicklungen in den
ostmitteleuropäischen Ländern gegeben. Allerdings verlangt der Autor dem Leser
dabei ein enormes Vorwissen ab. Beim Abschnitt über Polen beispielsweise
erwähnt er kurz hintereinander die Articuli Henriciani, die Gegenreformation
und die Lubliner Union. Der Leser muss hier schon aus anderen
Informationsquellen wissen, was Polen und Litauen überhaupt miteinander zu
schaffen hatten oder was Henri de Valois, der persönlich gar nicht erwähnt
wird, in Polen zu suchen hatte und warum seinetwegen die Articuli Henriciani
ausgearbeitet wurden. Erst dann kann er die Information von v. Puttkamer
genießen, was nämlich diese Ereignisse und Gegebenheiten für die weitere
Geschichte des Landes bewirkten. Auch bei anderen Ländern oder Regionen setzt
der Autor ständig sehr viel Wissen voraus. So heißt es über die böhmischen
Länder: "Hier hatte die Gegenreformation die Fähigkeit der politischen
Eliten zum Konsens um die Wende zum 17. Jahrhundert in dramatischer Weise
untergraben. Der 1618 offen ausgebrochene Konflikt endete mit der Niederlage
des böhmischen Ständeheeres am Weißen Berg. Dies in mehrfacher Hinsicht
einschneidende Ereignis beendete auch die bisherige konfessionelle
Toleranz." Schön, aber welcher Leser
hat hier sofort die Hintergründe parat? Wieso - könnte der oder die
Überblicksuchende fragen - gab es denn in Böhmen überhaupt einen starken
Protestantismus? Und wer waren die böhmischen Ständeheere? Und wer waren am
Weißen Berg die Anderen? Es fällt an dieser Stelle kein Wort über den 200 Jahre
zuvor als Ketzer verbrannten Jan Hus, über die Böhmischen Brüder, die nach
seinem Tod in Böhmen an Einfluss gewannen, oder über die Verbriefung von
Religionsfreiheit durch Kaiser Rudolf.
Dennoch ist
das Buch von v. Puttkamer ein wichtiges Buch und ein notwendiges Buch. Es ist
die Vogelperspektive auf die Geschichte der ostmitteleuropäischen Region. Und
diese Perspektive bietet eben Deutungen, die man nur auf diese Weise bekommt
und die das Verstehen mancher heutiger Reaktionen von ostmitteleuropäischen
Politikern oder Gesellschaften erst ermöglicht. Außerdem umfasst das Buch einen
für ein großes geopolitisches Gebiet
sehr langen Zeitraum: zwei Jahrhunderte plus Einbeziehung der Vorgeschichte. Man
muss allerdings wissen, wann man das Buch mit Gewinn in die Hand nehmen kann.
Es ist ganz sicher kein Buch für Osteuropa-Anfänger. Im universitären Rahmen
kann es für Studierende der osteuropäischen Geschichte frühestens im
Hauptstudium empfohlen werden.
Ein Grund
dafür, dass sich das Buch an vielen Stellen die Erklärungen zu wichtigen
historischen Ereignissen spart und es dem Leser oder der Leserin überlässt,
sich diese Informationen aus anderen Quellen zu holen, ist sicher die
75-seitige Bibliografie. Knapp ein Viertel dieses 353 Seiten starken Buches
besteht aus einer thematisch geordneten Bibliografie. Das ist ein Luxus, um
dessentwillen man sich das Buch schon zulegen kann. Es werden aktuelle
Publikationen mindestens bis zum Erscheinungsjahr 2008 sowohl von
westeuropäischen Forschern als auch von Forschern aus Ostmitteleuropa
berücksichtigt. Außerdem enthält das Buch eine stichwortartige Zeittafel
(leider erst ab 1764), drei Landkarten und ein ausführliches Register.
Ostmitteleuropa
im 19. und 20. Jahrhundert von Joachim von Puttkamer, Oldenbourg Grundriss der
Geschichte, Bd. 38, 2010, 353 S., Zeittafel, 4 Karten, ISBN 978-3-486-58169-0,
€ 34,80