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Nicole Bender und Lotte Habermann-Horstmeier: Evolution und Gesundheit
Im Verlauf ihrer Evolution
mussten sich die Menschen durch Veränderungen des Erbguts immer wieder an eine
neue Umwelt und neue Lebensweisen anpassen. Das wirkte sich sowohl auf körperliche
Merkmale aus als auch auf Stoffwechsel, geistige Fähigkeiten und Verhalten. Insbesondere
begannen mit dem Leben in der Savanne die Entwicklung neuer Jagdtechniken, die
Optimierung des aufrechten Ganges und ein verstärktes Hirnwachstum. Parallel
zum vermehrten Fleischkonsum veränderte sich der Verdauungstrakt. Doch die
weiteren Entwicklungen von Ackerbau und Viehzucht bis hin zur industriellen
Gesellschaft veränderten Lebensweise und Ernährung in so kurzer Zeit, dass eine
entsprechende genetische Anpassung nicht mehr erfolgen konnte. So waren einige
der zuvor entstandenen genetischen Merkmale in der Steinzeit nützlich, um den
Fortpflanzungserfolg zu steigern. Für den modernen Menschen aber erhöhten diese
Gene die Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten – insbesondere im Alter. Die
fehlende Übereinstimmung zwischen modernem Leben und genetischer Ausstattung
als Ursache für Zivilisationskrankheiten wie Fettleibigkeit, Diabetes und
Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist das Thema des Buches „Evolution und Gesundheit“
der Herausgeberinnen und Mitautorinnen Nicole Bender von der Universität Zürich
und Lotte Habermann-Horstmeier vom Villingen Institute of Public Health. Die
Erkenntnisse auf dem Forschungsgebiet der sogenannten Evolutionären Medizin
sind von diagnostischer Bedeutung und ermöglichen neue Methoden der Prävention
und Therapie chronischer Erkrankungen, die auch für das Öffentliche
Gesundheitswesen wichtig sind.
Das Werk des siebenköpfigen Autorenteams ist weniger ein populärwissenschaftliches Sachbuch als vielmehr ein Fach- und Lehrbuch für Studierende und Berufstätige in Heilberufen. Jedes der sieben Kapitel beginnt im Stil einer wissenschaftlichen Veröffentlichung mit Zusammenfassung und Einführung und endet mit Schlussfolgerung und umfangreichem Literaturverzeichnis. Die starre Gliederung führt häufig zu wiederholten Aussagen, was dem Lernenden vielleicht hilft, aber das flüssige Lesen erschwert. Bevor das eigentliche Thema des Buches abgehandelt wird, erfährt man zunächst in den ersten vier Kapiteln biologische und medizinische Grundlagen, die für das weitere Verständnis nötig sind. Dazu zählen allgemeine Prinzipien der Evolution, Epigenetik, Gendermedizin und Unterschiede zwischen Mensch und Affe. „Endziel der natürlichen Selektion ist die Weitergabe von Genen und nicht die Gesundheit oder Langlebigkeit der Lebewesen.“ Als extremes Beispiel für das Prinzip der Maximierung der Reproduktion auf Kosten der Langlebigkeit dient die Gottesanbeterin: „Gottesanbeterinnen beißen ihren männlichen Partnern nach der Paarung oft den Kopf ab und fressen sie dann auf. Aber auch bei höheren Tieren und beim Menschen ist dieses Evolutions-Prinzip gültig.“
Die beiden Hauptkapitel zeigen zum einen, welche Bedeutung die Mikroben und deren Co-Evolution mit dem Menschen für unsere Gesundheit haben: Es geht um Infektionskrankheiten, Epidemien, Mikrobiom und Allergien. Zum anderen gehen die AutorInnen ausführlich auf die große gesundheitliche Bedeutung der Ernährung ein. Der Übergang von vorwiegend vegetarisch lebenden Frühmenschen zu Fleischessern und Menschen, die industriell hergestellte Lebensmittel konsumieren, wirkte sich auch auf das Verdauungssystem aus. Die Evolution der Laktase-Persistenz vor einigen tausend Jahren zum Beispiel ermöglichte in mehreren Weltregionen die Verdauung von Milchzucker und damit den Milchkonsum im Erwachsenenalter. Erläuterungen des Zusammenhangs zwischen Ernährung, Evolution und Übergewicht bilden einen Schwerpunkt des Buches. Die beiden Hauptautorinnen stellen die Besonderheiten des menschlichen Fettgewebes dar und diskutieren unter anderem, ob eine „gesunde“, weil „naturgemäße“ Ernährung durch Steinzeitdiät hilfreich wäre.
Resümee: Die Evolution hat unser Genom nicht optimal an das heutige Leben in der Zivilisation angepasst, worin eine Ursache für mehrere chronische Krankheiten zu sehen ist. Das Buch macht komplexe Zusammenhänge deutlich, weist auf viele ungeklärte Fragen hin und zeigt, wie „naturwissenschaftliche Erkenntnisse z.B. aus den Bereichen Evolutionsbiologie, Genetik und Paläo-Wissenschaften“ dabei helfen könnten, Maßnahmen zu entwickeln, die die Gesundheit der Bevölkerung verbessern.
Nicole Bender und Lotte
Habermann-Horstmeier (Hrsg.): Evolution und Gesundheit – Wie
beeinflussen Lebensweise und Ernährung die Medizin und unsere Gesundheit?, Hogrefe
Verlag, Bern, 2022, ISBN 978-3-456-86110-4, 304 Seiten, 29,95 Euro