Nicht nur Antibiotika schädigen die Darmflora
„Die Zahl chemisch nicht miteinander verwandter Arzneistoffe, die als Kollateralschaden die Darmflora schädigen, war überraschend groß“, sagt Peer Bork vom European Molecular Biology Laboratory in Heidelberg, einer der vier leitenden Wissenschaftler des Forscherteams. „Das ist erschreckend, wenn man bedenkt, dass wir viele nicht antibiotische Medikamente oft über längere Zeiträume einnehmen“, ergänzt Athanasios Typas. Aus früheren Studien war bekannt, dass unter anderem Diabetes- und Schmerzmittel die Darmflora verändern und so die Gesundheit beeinträchtigen können. Erstmals untersuchten Forscher nun in einem systematischen Screening, wie sich circa 1200 therapeutisch genutzte Substanzen auf das Wachstum von 40 repräsentativen Stämmen von Darmbakterien auswirken.
Jeder Bakterienstamm wurde als Reinkultur unter sauerstofffreien Bedingungen in einer Nährlösung kultiviert. Die Konzentration der jeweils zugesetzten Wirksubstanz entsprach in etwa der, die bei normaler Dosierung des Medikaments auch im Darm erreicht wird. Zu den Testsubstanzen zählten Wirkstoffe gegen Bakterien, Viren, Pilze, Protozoen und Parasiten sowie 835 Wirkstoffe, die zur Behandlung nicht infektiöser Erkrankungen eingesetzt werden. Von den 156 antibakteriellen Substanzen hemmten 78 Prozent das Wachstum von mindestens einer Spezies der Darmbakterien. Eine solche Wirkung zeigten auch 24 Prozent der nicht antibiotischen Medikamente. Die meisten davon wirkten nur gegen einige wenige Bakterienarten. Doch 40 Substanzen waren gegen mindestens zehn verschiedene Keime wirksam. Am häufigsten und stärksten traten diese Nebenwirkungen bei Krebsmitteln, Hormonen und Antipsychotika auf.
Auf welche Weise die chemisch sehr unterschiedlichen Medikamente die Vermehrung der Bakterien blockieren, ist noch nicht untersucht. Es sei durchaus möglich, so die Forscher, dass zum Beispiel bei den Psychopharmaka der antibakterielle Effekt Teil der medizinischen Wirkmechanismen dieser Verbindungen ist. Die Laborexperimente ergaben zudem, dass viele antibiotikaresistente Keime gleichzeitig auch gegen die nicht antibiotischen Substanzen resistent waren. Beides könnte also auf denselben Resistenzmechanismus zurückzuführen sein. Das würde auch bedeuten, dass eine längerfristige Einnahme solcher nicht antibiotischer Medikamente die Entwicklung antibiotikaresistenter Bakterien zur Folge haben kann.
Da sich die Zusammensetzung der Darmflora von Mensch zu Mensch unterscheidet, könnten die Ergebnisse auch erklären, warum ein und dasselbe Medikament bei verschiedenen Patienten unterschiedlich starke Nebenwirkungen hat. Eine aufgrund der individuellen Darmflora personalisierte Therapie würde es ermöglichen, für jeden Patienten das bestverträgliche Medikament auszuwählen. Nicht zuletzt wäre es denkbar, bisher für ganz andere Therapien verwendete Medikamente auch als Antibiotika einzusetzen – sei es, um eine Infektion zu bekämpfen oder um eine gestörte Darmflora wieder zu normalisieren. Zunächst aber müssten die Laborergebnisse in Tierversuchen und klinischen Studien überprüft werden.