Evolution des Menschen: Neues Gen ließ das Gehirn wachsen

Ein Gen, das nur beim Menschen und nicht bei Affen vorkommt, beeinflusst einen Signalweg im Fötus so, dass vermehrt Neuronen der Großhirnrinde entstehen
Menschlicher Schädel mit eingezeichnetem Gehirn
Menschlicher Schädel mit eingezeichnetem Gehirn
© Fiddes et al./Cell
Brüssel (Belgien)/Santa Cruz (USA) - Das Erbgut des Menschen unterscheidet sich nur minimal von dem des Schimpansen. Doch im Lauf der Evolution sind durch Genverdopplungen und anschließende Veränderungen einige Gene entstanden, die nur im menschlichen Genom vorkommen. Dazu zählt eine Gruppe von Genen, welche die Produktion von Neuronen der Großhirnrinde steigert, und so zu einer starken Vergrößerung des Denkorgans beigetragen hat. Das berichten jetzt eine belgische und eine amerikanische Forschergruppe im Fachblatt „Cell“. Eine verstärkte oder verringerte Aktivität dieser Gene könnte zu übermäßigem oder eingeschränktem Hirnwachstum führen (Makro- oder Mikrozephalie) und eine Ursache von Autismus und Schizophrenie sein. Die genetische Veränderung verbesserte also nicht nur die Denkleistung, sondern erhöhte wahrscheinlich auch das Risiko für Hirnerkrankungen und psychische Störungen.

„Wir wollten herausfinden, was in der menschlichen Evolution die Entwicklung des größeren Gehirns – insbesondere der Großhirnrinde – bewirkte“, sagt Pierre Vanderhaeghen von der Université Libre de Bruxelles. „Da die Vergrößerung des Gehirns relativ schnell ablief, war es naheliegend anzunehmen, dass neu entstandene Gene dafür verantwortlich gewesen sein könnten.“ Die Zellen der Großhirnrinde entwickeln sich aus speziellen Vorläuferzellen, die aus neuronalen Stammzellen hervorgegangen sind. Im menschlichen Fötus vermehren sich diese Vorläuferzellen zunächst durch zahlreiche Zellteilungen, bevor sie sich schließlich in reife Neuronen umwandeln. Bei Mäusen und Affen dagegen ist dieser Prozess abgekürzt: Schon nach wenigen Zellteilungen entstehen Neuronen, deren Gesamtzahl daher deutlich geringer ausfällt als beim Menschen. Die Ursache für diesen Unterschied war bisher nicht bekannt.

Vanderhaeghen und seine Kollegen suchten nach spezifisch menschlichen Genen, die dafür verantwortlich sein könnten. Dazu analysierten sie die Aktivität von Genen in fötalem Hirngewebe. Sie konnten 35 Gene identifizieren, die bei der Entwicklung der Großhirnrinde überaus aktiv waren. Einige davon waren offenbar nach Verdopplung des im Erbgut von Affen vorhandenen NOTCH2-Gens entstanden. NOTCH2-Gene sind an der Kontrolle eines Signalwegs beteiligt, der die Hirnentwicklung steuert. Drei der als NOTCH2NL bezeichneten nur beim Menschen vorkommenden Varianten dieser Gene verstärkten die Wirkung des NOTCH-Signalwegs. Das verändert den Ablauf der Zellteilungen neuronaler Vorläuferzellen so, dass die für Menschen typische große Zahl an Neuronen und eine entsprechend ausgedehnte Großhirnrinde zustande kommt. Die Forscher vermuteten, dass eine zu schwache oder eine übermäßige Aktivität der NOTCH2NL-Gene angeborene Hirnschäden und psychische Störungen verursachen könnten.

Hinweise darauf fanden die Forscher um David Haussler von der University of California in Santa Cruz bei genetischen Untersuchungen von elf Patienten mit Makro- oder Mikrozephalie. Genetische Veränderungen in der Region der NOTCH2NL-Gene verweisen auch auf einen Zusammenhang mit neurologischen Erkrankungen wie ADHS, Autismus und Schizophrenie. Hausslers Arbeitsgruppe untersuchte Hirngewebe, das aus Stammzellen von Menschen und Affen gezüchtet wurde. In den so erzeugten „zerebralen Organoiden“ – auch „Minihirne“ genannt – entwickeln sich die für die Großhirnrinde charakteristischen Strukturen aus vernetzten Neuronen. In Organoiden menschlicher Zellen, aus denen die NOTCH2NL-Gene entfernt worden waren, entstanden Zellen der Großhirnrinde zwar schneller, aber in geringerer Zahl. NOTCH2NL-Gene fanden sich nur in menschlichen Zellen, nicht aber in Organoiden von Makaken und nicht im Erbgut von Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans.

Demnach müsse es, so die Autoren, vor drei bis vier Millionen Jahren bei einem gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Menschenaffen zu einer Verdopplung des NOTCH2-Gens gekommen sein. Das Duplikat, ein Pseudogen, hatte zunächst keine Funktion. Während der weiteren Evolution zum Menschen allerdings wurden daraus neue funktionierende NOTCH2NL-Gene. Wie Genomvergleiche zeigten, verfügten darüber auch schon die Neandertaler und die Denisova-Menschen. „Wir könnten unser großes Gehirn zum Teil der Duplikation von NOTCH2 und anderer Gene verdanken“, sagt Haussler. „Aber damit verbunden war eine erhöhte Instabilität in einem Abschnitt des Chromosoms 1, wodurch wir anfälliger für ein gestörtes Hirnwachstum und psychische Erkrankungen wurden.“

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