Kosten-Nutzen-Rechnung: Wenn Eidechsen ihren Schwanz abwerfen

„Unsere Dokumentation zeigt erstmals, dass die Tiere unter natürlichen Bedingungen von einer Schwanzregeneration profitieren. Das erklärt, warum sich dieses Merkmal im Lauf der Evolution bei ständiger Bedrohung durch Räuber erhalten hat“, schreiben Si-Min Lin und seine Kollegen von der National Taiwan Normal University in Taipeh. Sieben Jahre lang untersuchten die Forscher eine Population von Langschwanzeidechsen (Takydromus viridipunctatus) in einer Graslandschaft im Norden Taiwans. Die Tiere erreichen eine Körperlänge – ohne Schwanz – von knapp fünf Zentimeter, der Schwanz ist 2,5- bis 4-mal so lang. Ihre natürlichen Feinde an diesem Standort sind nahezu ausschließlich tagaktive räuberische Vögel.
Einmal pro Monat sammelten die Biologen in einer Nachtaktion alle Eidechsen ein, die sie finden konnten. Dabei kam ihnen deren ungewöhnliches Schlafverhalten zugute: Die Tiere liegen, vielleicht zum Schutz vor Bodenfeinden, auf den Blättern der Gräser. Nach der Überprüfung, ob der Schwanz intakt, abgeworfen oder nachgewachsen ist, wurden die Eidechsen markiert und wieder freigelassen. Im Schnitt konnten pro Nacht 230 Tiere registriert werden. Insgesamt waren es mehr als 20.000 Fänge von mehr als 11.000 Individuen. Außerdem nutzten die Forscher aktuelle Zählungen räuberischer Vogelarten in diesem Gebiet als Maß für die Bedrohung der Reptilien im Jahresverlauf.
Während der Fortpflanzungszeit sorgte eine wachsende Zahl an Kuhreihern für einen Anstieg der Sterberate bei gleichbleibender Häufigkeit von Autotomie. In der übrigen Zeit des Jahres sanken die Überlebensraten mit einer steigenden Zahl an Falken und Würgern, wobei gleichzeitig der Prozentsatz an Eidechsen mit abgeworfenem Schwanz stieg. Offenbar erjagen die großen Kuhreiher ihre Beute, ohne sich durch die Taktik der Autotomie ablenken zu lassen. Die kleineren räuberischen Vögel lassen sich dagegen bei der Dezimierung der Population öfter täuschen und erhöhen dadurch den Anteil an schwanzlosen Tieren.
Nach einer Autotomie stieg die Sterberate bei den Männchen in der Fortpflanzungszeit um 34 Prozent, bei den Weibchen um 22,5 Prozent. Möglicherweise verringert der Schwanzverlust die Beweglichkeit der Tiere und verschlechtert auch auf andere Weise die körperliche Fitness. Während sich der Schwanz regenerierte – und dabei wieder die ursprüngliche Länge erreichte – erhöhte sich auch die Überlebensrate um 35 beziehungsweise 25 Prozent. Tiere mit vollständig nachgewachsenem Schwanz hatten schließlich dasselbe Sterberisiko wie diejenigen, die ihren Schwanz nie verloren hatten. Auch ein bereits einmal regenerierter Schwanz kann erneut abgeworfen werden. Insgesamt erwies sich der Einsatz der Autotomie bei anhaltender Bedrohung als vorteilhaft, auch wenn sich nicht jeder Fressfeind gleichermaßen täuschen ließ.