Zahnstein-Archäologie: Menschen des Mittelalters litten schon unter Parodontitis
„Zahnstein wirkt als Langzeitreservoir von Mundkeimen; seine Analyse erlaubt Aussagen über den Gesundheitszustand eines Menschen“, sagt Christina Warinner aus der Arbeitsgruppe von Frank Rühli vom Zentrum für Evolutionäre Medizin der Universität Zürich. In den verkalkten Ablagerungen bleiben DNA, Proteine und Nahrungsreste nach dem Tod viel besser vor Zersetzung geschützt als in anderen Teilen des Skeletts. „In Zukunft könnte der Zahnstein für die meisten Archäologen interessanter sein als die Zähne selbst”, sagt Matthew Collins von der University of York, der an den Untersuchungen beteiligt war. Insgesamt leisteten 32 Wissenschaftler aus sieben Ländern einen Beitrag dazu, die Evolution der menschlichen Mundbakterien aufzuklären.
Wie Darm- und Hautkeime sind auch die Mikroben des Mundraums ein normaler Bestandteil des gesunden menschlichen Körpers. Wenn sich allerdings bestimmte Bakterien an den Zähnen anheften, können sich zahnschädigende Arten stark vermehren. Die entstehenden Beläge werden dann zum Ausgangspunkt für Zahnerkrankungen wie Karies und Parodontitis. Einige Erreger können über das Blut auch in andere Teile des Körpers gelangen und Infektionen auslösen. Da für Wildtiere kein durch Zahnbeläge verursachtes Infektionsrisiko besteht, vermutet man die Ursache in veränderten Lebensbedingungen des modernen Menschen.
Die Forscher analysierten Zahnstein von vier menschlichen Skeletten, die in der Zeit zwischen 950 und 1200 bei einem Kloster in Dalheim bestattet worden waren. In allen Fällen gab es Anzeichen einer leichten bis schweren Parodontitis, einer bakteriellen Infektion, die Zahnfleisch, Zähne und Kieferknochen schädigt. Als Vergleich dienten Proben von neun Menschen heutiger Zeit mit unterschiedlicher Zahngesundheit. Der Gehalt an Gesamt-DNA pro Milligramm Zahnstein war in allen Proben etwa gleich. Der überwiegende Teil dieser DNA stammte aus Bakterien. Durch modernste Methoden der DNA-Sequenzierung ermittelten die Wissenschaftler in den archäologischen Proben mehr als 2.000 Bakterienarten. Die meisten davon kommen auch in Zahnbelägen heutiger Menschen vor.
Häufiger als im Untersuchungsmaterial gesunder Menschen fanden die Forscher im mittelalterlichen Zahnstein DNA von drei Bakterienspezies, die an der Entstehung von Parodontitis beteilig sind. Für einen dieser Keime – Tannerella forsythia – gelang sogar die vollständige Rekonstruktion des Erbguts. In den alten Proben waren auch Streptokokkenarten nachweisbar, die chronische Infektionen wie eine bakterielle Endokarditis auslösen können. Trotz stark veränderter Ernährung, Mundhygiene und allgemeiner Lebensweise hat sich demnach die Zusammensetzung der Mundflora im Verlauf von tausend Jahren kaum verändert. Die Forscher entdeckten in den mittelalterlichen Proben sogar bakterielle Resistenzgene, die Penicilline oder andere Antibiotika unwirksam machen. Offenbar gab es solche Gene bereits mehr als 800 Jahre bevor das erste Antibiotikum zum Einsatz kam. Welche Funktion diese Gene für die Bakterien damals hatten, ist unbekannt.