Evolution: Geschichten am Lagerfeuer förderten die Kooperation
„Geschichtenerzählen ist typisch menschlich. Ob am Lagerfeuer oder vor dem Fernseher: Menschen produzieren und konsumieren Geschichten“, schreiben die Forscher um Daniel Smith vom University College London. Bisher gebe es aber nur wenige Untersuchungen zu Funktion und Evolution dieses Verhaltens. Durch die mündliche Überlieferung würden zwar auch überlebenswichtige Informationen über Umwelt und Nahrungserwerb vermittelt – ganz abgesehen vom reinen Unterhaltungswert. Doch in den meisten der Geschichten gehe es um soziales Verhalten. Daher könnten die Erzählungen hauptsächlich den Zweck haben, Verhaltensregeln mitzuteilen, die das Zusammenleben innerhalb der Gruppe verbessern und so die Existenz des Volkes sichern.
Die Forscher sammelten zunächst traditionelle Geschichten der Agta. Eine davon erzählt zum Beispiel von der (männlichen) Sonne und dem (weiblichen) Mond, die sich darum streiten, wer den Himmel beleuchten darf. Die beiden einigen sich am Ende darauf, dass der eine am Tag und die andere in der Nacht leuchten soll. In einer zweiten Geschichte glaubt eine geflügelte Ameise, dass sie wegen ihres andersartigen Aussehens gar keine Ameise ist, sondern vielleicht ein Vogel oder ein Schmetterling, die ja auch Flügel haben. Doch dann wird sie von den Ameisen akzeptiert und sogar zur Königin ernannt. Die Themen dieser Erzählungen sind Zusammenarbeit, Freundschaft, Zusammenhalt, Akzeptanz und soziale Gleichheit.
Anhand weiterer Berichte anderer Anthropologen werteten die Forscher die Inhalte von insgesamt 89 traditionellen Geschichten aus, die aus sieben verschiedenen Jäger-und-Sammler-Kulturen stammten. Davon handelten etwa 70 Prozent von sozialem Verhalten. Durch Befragung von 300 Angehörigen der Agta ermittelten die Wissenschaftler die Beliebtheit der Geschichtenerzähler in 18 Stammesverbänden. Ein psychologisches Spiel, an dem sich 290 Erwachsene beteiligten, lieferte für jeden Teilnehmer eine Bewertung seines kooperativen Verhaltens. Je höher die Qualität der Geschichtenerzähler in einem Stammesverband war, desto stärker ausgeprägt war auch das kooperative Verhalten innerhalb dieser Gruppe. Weitere Befragungen ergaben, dass gute Erzähler bei der Partnerwahl doppelt so große Chancen hatten wie andere. Im Vergleich dazu war der gute Ruf eines erfolgreichen Fischers dabei deutlich weniger wert. Die Fähigkeit, Geschichten erzählen zu können, könnte sich für die Gemeinschaft also als vorteilhafter erwiesen haben als großes Geschick bei der Nahrungsbeschaffung. Wie ein weiterer Vergleich zeigte, war die Kinderzahl eines Geschichtenerzählers im Schnitt um 0,5 höher als die der anderen. Sein Talent zahlte sich also auch in einer größeren individuellen biologischen Fitness aus.
Die vorliegende Untersuchung kann nicht beweisen, dass das Geschichtenerzählen tatsächlich die Ursache von verstärktem kooperativem Verhalten ist. Die Autoren halten einen solchen Zusammenhang aber für sehr wahrscheinlich, wobei sich beide Fähigkeiten gegenseitig positiv beeinflusst haben dürften. Sie vermuten zudem, dass überlieferte Erzählungen, die Verhaltensregeln übermitteln, eine Vorstufe von Religionen mit moralisierenden Göttern gewesen sein könnten. In allen Jäger-und-Sammler-Kulturen seien soziale Gleichheit und kooperatives Verhalten verbreitet. Dagegen hätten sich der Glaube an allwissende und strafende Gottheiten und komplexere Religionen wohl erst später, nach dem Sesshaftwerden, entwickelt.