Im Ernst

Der Weltuntergang

© Google

Wenn die Medienlandschaft die Teilchenphysik entdeckt


von Dörte Saße

Was ist schlimmer als ein Hurrikan? Schlimmer als entfesselte Naturgewalten, die gerade Kuba überrollen, Mensch und Maus durcheinanderwirbeln und sogar Touristen zu verschlingen drohen? Zig Tote werden gemeldet, doch all das ist zweitrangig. Heute, auf Platz eins im Privatfernsehen und - gefühlt - auch aller anderen Medien: Pure Grundlagenphysik.


Samt Liveschaltung zum Ort des Geschehens! Da stehen dann die Reporter mehr oder weniger in der grünen Landschaft und berichten. Live. Vom neuen Beschleunigerring des CERN. Von den Vorgängen, die zwar verborgen tief unter der Erde stattfinden, aber immerhin höchstwahrscheinlich gerade in diesem Moment. Wahrscheinlich. Einige winzige Teilchen gehen auf die Reise, immer im Kreis herum.

Wann hatten Physiker das letzte Mal solch weltumspannende Aufmerksamkeit? Atombombe? Mondlandung? Tschernobyl? Der Mars-Rover vielleicht? Die seltenen Ereignisse scheinen in zwei Kategorien zu fallen: Faszinierende, innovative Aktionen, neue Schritte für die Menschheit - finden im All statt. Physik auf der Erde hingegen? Bedeutet Bedrohung. Tod und Zerstörung. Theoretisch ist das möglich, jedenfalls. Oder immerhin: denkbar...

Was die Experimente am CERN angeht, enthalten viele Schlagzeilen die Worte "Urknall" und "Gottesteilchen" und besonders häufig "Schwarzes Loch". Wobei man ja noch nicht mal weiß, ob tatsächlich das eine oder andere winzige solche entstehen wird, in den Versuchen. Könnte aber. Und bei Schwarzen Löchern wissen wir ja alle, was wir davon zu halten haben. Spätestens seit Stephen Hawking im Kino: Erst wird man zum Spaghetti verzerrt, dann steht die Zeit still und wir sind weg. Verschwunden die Welt, wie wir sie noch kennenlernen durften. Obwohl, streng genommen: nicht weg, sondern im Schwarzen Loch drin. Aber zusammengestaucht auf einen einzigen, dichten, heißen Punkt.

Da hat man gerade die Wäsche zum Trocknen gehängt, mühsam den Videorekorder für die Urlaubszeit programmiert, endlich den Kredit fast abgezahlt. Und dann sowas! Alles geschrumpft auf den Bruchteil einer Erbse - samt Reportern, CERN und den Hurrikans auf Kuba. Das ist natürlich wirklich ärgerlich. Und nur, weil da ein paar Physiker "Gott spielen wollen"?

Ein hübscher Vorwurf aus dem Mund religiös Begeisterter: Denn wenn "Gott spielen" bedeutet, Teilchen aufeinander zu schießen und zu schauen, was rauskommt - dann nutzte Gott kein Intelligentes Design. Oder andersrum: Wenn Gott alle Geschöpfe dieser Welt gezielt gestaltet hat, dann somit auch die Schwarzen Löcher. Und sollte unsere Welt darin untergehen, dann ist es auch okay, dann gehört das ja zum göttlichen Plan...

Doch auch der eine oder andere Nicht-Religiöse macht sich ernsthafte Sorgen. Schließlich war Physik in der Schule meistens bäh, auf alle Fälle aber unverständlich: Wissen DIE denn eigentlich wirklich, was sie da tun? Die Zeitungen zitieren Forscher immer nur mit unklaren Aussagen wie "soweit wir das sehen, ist keine Gefahr zu erkennen", "nach allen Berechnungen ist ein Fehlschlag extrem unwahrscheinlich" oder "es gibt sehr hypthetische Spekulationen, wonach die Mini-Schwarzen-Löcher so funktionieren wie die bekannten, riesigen Schwarzen Löcher im All". Oder gar: "Manche Teilchen in der Erdatmosphäre haben viel höherer Energien als im Beschleunigerring - da müssten ja Erde und Mond auch schon längst verschwunden sein". Zählt das als Argument? Wenn ich nicht beweisen kann, dass etwas nicht passieren wird - wird es dann passieren?

Dumm, dass Wissenschaftler sich immer so exakt ausdrücken müssen, sogar zugeben, wenn sie etwas nicht hundertprozentig wissen. Noch dummer, dass Politiker in den Medien genau das Gegenteil tun. Und wenn dann mal ein Physiker eine klare Aussage wagt, morgens im TV sprach einer: "Das Experiment ist sicher" - dann weiß man ja, was davon zu halten ist. "Die Rente ist sicher" hat auch mal einer im TV gesagt...

Alle reden heute über Physik, sogar in der Kantine beim Mittagessen. Der Urknall schafft es bis ins Straßen-TV, und Google hat dem Anlass ein eigenes Doodle-Bildchen gewidmet. Doch eigentlich weiß keiner was Genaues: Ein fruchtbares Feld für Ängste-Schürer. In Indien soll sich gar ein Mädchen vor Angst umgebracht haben. Und ein Web-Diskutant meldet: "Damals bei der Atombombe, 1943, stand das Risiko der Verdampfung der Erd-Atmosphäre zur Debatte" - weitergeforscht habe man nur, weil Enrico Fermis Berechnungen diesen Fall ausschlossen. Und er schlussfolgert, dass die Welt nur noch besteht, weil Fermi sich nicht verrechnet habe: "Man beachte, dass das Hyperrisiko in den Händen eines einzelnen Physikers lag. Der Eventualfall wurde durch pures Glück verhindert". Klingt fast logisch.

Sogar im Kulturradio ist das CERN ein Thema, und nicht nur, weil die Forscher einen schrägen Rap-Song dazu ins Netz gestellt haben. Nein, hier diskutiert man über die geistige "Rückkehr nach Stonehenge", über die Neigung Otto Normalverbrauchers zur Metaphysik, wenn die Dinge zu kompliziert werden. Und da ein ernsthafter, grauhaariger deutscher Professor die Weltuntergangs-Warner anführt - ein Biochemiker eigentlich, aber Professor ist schließlich Professor - da kann man schon ins Grübeln kommen. Der klagte sogar am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Und prognostiziert, für Laien verständlich: "Das ist so, als ob die Erde AIDS kriegt! Man merkt nix, aber in ein Paar Jahren ist alles aus."

So überrascht es denn fast, dass die Bildzeitung zur Abwechslung mal nicht den Weltuntergang beschwört, sondern Schwarze Löcher eigentlich ganz praktisch findet - da könnten dann Steuererklärungen und nervige Chefs drin verschwinden. Ha. Und sich dann wieder sachlich gibt: "Diskutieren Sie mit! Soll man den Beginn der Welt errechnen? Haben wir Verwendung für künstliche Schwarze Löcher?"

Gut, dass wir die Liveschaltungen im Fernsehen haben. Die versuchen ja wenigstens, uns zu informieren, befragen sogar echte Physiker, die sich damit auskennen. Wahrscheinlich. Kann man ja nicht so beurteilen als Laie. Manchmal laufen auch ein paar anschaulich bunte Simulationen im Hintergrund. Und ganz manchmal werden die sogar erläutert.

Auf jeden Fall richten sich heute die Augen der Welt auf ein Ereignis, von dem so gut wie nichts zu sehen ist. Außer auf den Überwachungsmonitoren der CERN-Forscher. Und auch dort wird es Wochen bis Monate dauern, bis die die ersten Teilchen tatsächlich aufeinanderprallen. Zuerst testet man Schritt für Schritt den Einbahnbetrieb.

Und wenn die erste Kollision dann ansteht - dann wäre die nächste Chance für die große Story am Medienmarkt. Dann entstehen ja vielleicht tatsächlich einige winzige Schwarze Löcher. Und vielleicht haben sich die Fachleute ja doch verrechnet und die Löchlein fließen ineinander und werden immer größer. Und verschlingen dann doch die Erde, ganz unwahrscheinlicherweise. Wer das dann live auf dem Bildschirm zeigen kann, der hat in der Medienwelt die Nase vorn. Für ganz kurz, wenigstens.

Ihre Meinung dazu direkt an den Autor: Dörte Saße


 

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