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Denken, Lernen, Vergessen
Kleiner Ausflug in die
Hirnforschung
Pech für den Homo sapiens der
Moderne, dass sein Hirn im Prinzip immer noch so strukturiert ist wie das
seiner Vorfahren. Behandelt man es allerdings richtig, kann das urtümliche "Denkorgan“ beim Lernen und Merken trotzdem erstaunliche Leistungen zeigen.
Lernen ist überhaupt nur
möglich, weil das Hirn bis zum Tod veränderbar bleibt. Zwar liegt die
wichtigste Phase der Hirnbildung vor der Pubertät: Die 100 Milliarden
Nervenzellen (Neuronen), die schon das Neugeborene besitzt, wachsen, vermehren
und verzweigen sich in den ersten drei
Lebensjahren und bilden zunächst doppelt so viele Kontaktstellen (Synapsen)
untereinander wie beim Erwachsenen. Das Hirn ist noch sehr langsam, aber bereit
für alle Arten von Lerninhalten: unterschiedlichste Sprachen oder
Verhaltensweisen, das Überlebenswissen im südamerikanischen Dschungel wie auch
im hochtechnisierten Japan.
Dabei wird das Gelernte nicht
an einzelnen Gehirnzellen abgelegt, sondern als Muster im ganzen Geflecht. Die
Meldungen laufen als elektrische Signale kreuz und quer über die Neuronen und
in Form chemischer Botenstoffe über die Synapsen. Treten bestimmte Eindrücke
immer wieder auf, so nehmen die Signalketten zunehmend denselben Weg, die
Neuronen entlang des Wegmusters werden dicker, leiten die Signale schneller und
bilden immer mehr und längere Seitenarme und Synapsen aus.
Ergebnis: Üben und Lernen
prägen im Kinderhirn die individuelle Struktur, mit der es später aus der
Pubertät herauskommen wird; wenig genutzte Verbindungen bilden sich zurück, und
die erwachsenentypische Synapsenzahl bleibt übrig. In jenen Feldern, in denen
das Kind schon eine Grundlage erworben hat, kann der Erwachsene später leichter
hinzulernen.
Doch das ist nicht
unveränderlich: Bis ins hohe Alter lässt sich diese Struktur durch (Um-)Lernen
beeinflussen. Auch wenn es nicht mehr gar so leicht fällt, prägen sich neue
Bahnen ein und ungenutzte verkümmern. Deshalb tun Menschen gut daran, sich auch
im Alter vielfältig zu interessieren und beweglich zu halten. Dabei haben
Erwachsene auch Vorteile. Geht es statt um neue körperliche Fähigkeiten um
logische Zusammenhänge und Faktenwissen, dann können sie im Gegensatz zu
Kindern schon auf Vorhandenem aufbauen und schneller lernen.
Die Ohren auf Durchzug....
Lehrer Bömmel stand vorn und
dozierte. Dabei hat er sträflich vernachlässigt, dass vor ihm ganz
unterschiedliche Lerntypen saßen. Unterschiedlich in den individuell
bevorzugten Wahrnehmungskanälen, auf die sich Menschen schon in der frühen
Kindheit festlegen: Die einen müssen den Lernstoff gelesen und das Experiment
beobachtet haben (optisch-visueller Typ), die anderen müssen die Dinge anfassen
oder nachahmen (haptisch-kinästhetisch). Manch einer lernt am besten durch
Vortrag und Gespräch (auditiv), andere müssen mit Begriffen und Formeln die
innere Logik durchblicken (abstrakt-verbal). Im klassischen Unterrichtsstil
sind die letzten beiden Gruppen klar im Vorteil. Die anderen wissen selten,
warum sie nicht so schnell begreifen.
Deshalb setzt modernes Lehren
für alle Altersstufen darauf, möglichst viele Sinneskanäle anzusprechen: Erstens
spricht man die verschiedenen Lerntypen an, zweitens bleibt bei allen das Neue
umso besser "hängen“, wenn es über Auge, Ohr und Tastsinn zusammen ins
Bewusstsein gelangt. Noch besser haftet es, wenn sich die Lernenden eigene
Gedanken darüber machen, darüber diskutieren
und an schon Gewusstes anknüpfen.
ZUSATZINFORMATIONEN
Der Weg ins
Langzeitgedächtnis
Der Mensch würde verrückt
werden, wenn er alle Information behalten müsste, die sekündlich auf ihn
einströmt -- vom Druck seiner auftretenden Fußsohle bis zum Temperaturgefühl
der Haut, von den Gesprächen aller umstehenden Partygäste bis zu der Unzahl an
Nachrichten in den Medien. Da braucht es Filter, um auszusortieren. Erster
Filter ist die Aufmerksamkeit, die "normales“ Geschehen ausblendet und sich vor
allem auf Ungewöhnliches oder individuell Interessantes richtet. Der zweite
Filter ist das Gedächtnis, das über mehrere Hürden nur einen winzigen Bruchteil
des Einströmenden ein ganzes Leben lang speichert:
• Kurzzeitgedächtnis
überzugehen, wo sie rund 20 Minuten
bis 2 Tage verbleiben können. Hier verarbeitet und organisiert, können sie ins
• Langzeitgedächtnis
übergehen. Jetzt ist die Information
über RNA-Moleküle der Neuronen gespeichert, die verschiedenste Arten von
Hirneiweißen kodieren. Sie lässt sie sich nur noch durch neue Informationen
überdecken oder durch chemische Veränderungen im Hirn wieder löschen, etwa
durch Drogen oder krankhafte Veränderungen. Allerdings muss das Wissen
wiederholt werden, um aktiv im Vordergrund zu bleiben.
PRAKTISCHE TIPPS
Sprachenlernen
Aktives Nachdenken plus
unterbewusstes Aufnehmen ist die Siegesformel fürs Sprachenlernen:
Vokabelpauken ist verboten bei der Birkenbihl-Methode, stattdessen muss sich
das Hirn zunächst an den Klang der neuen Sprache gewöhnen -- etwa wenn
Nachrichten oder Filme als Hintergrundgeräusch laufen. Dann keine Vokabelpaare,
sondern ganze Sätze lernen, und zwar mit wortwörtlicher Übersetzung, um die
fremdartige Wortstellung gleich zu verinnerlichen. Sehr hilfreich ist auch das
wiederholte Anschauen gut bekannter Filme in der fremden Sprache.
Listenmerken
Neue Namen oder Einzelfakten
haften kurzfristig am besten, wenn man sie in möglichst drastischen Bildern an
ein vorhandenes Gerüst heften kann. Könner der Mnemotechnik haben eine immer
gleichbleibende Grundliste, die Zahlen mit Bildern verknüpft: 1=Kerze,
2=Schwan, 3=Dreizack, und so fort. Muss dann der Einkaufszettel im Kopf
bleiben, heften sie den Salatkopf unter eine tropfende Kerze, das Waschmittel
lagert auf dem Schwanenrücken, und die Schweinelende hängt auf dem Dreizack...
Fakten und Vokabeln merken
Zettelkästen und Merksoftware
wie Phase-6 (www.phase-6.de) ebnen durch gezieltes Wiederholen den Weg ins
Langzeitgedächtnis. Idealerweise schreibt man die Lerninhalte selbst auf die
papiernen oder virtuellen Karteikarten. Die Abfrage erfolgt dann nach 24
Stunden, nach drei Tagen, zehn, dreißig und neunzig Tagen. Was zwischendurch
vergessen wurde rutscht wieder nach vorn, doch was die 90-Tage-Hürde genommen
hat, "sitzt“ angeblich für immer.
BUCHTIPPS
"Denken, Lernen, Vergessen“
von Frederic Vester, DTV, 1998, ISBN: 3423330457, 272 S., Euro 8,50
"Stroh im Kopf?“ von Vera F.
Birkenbihl, Moderne Verlagsgesellschaft, 2005, ISBN: 3636070673, 336 S., Euro
8,90
"Kluges Lernen“ von Ellen J.
Langer, Rowohlt, 2001, ISBN: 349961121X, 160S., Euro 8,90
"Lernen - Gehirnforschung und
die Schule des Lebens“ von Manfred Spitzer, Spektrum Akademischer Verlag ,
2002, ISBN: 3827413966, 528 S., Euro 31,00
"Stichwort Schule, Trotz
Schule lernen!“ von Vera F. Birkenbihl, Moderne Verlagsgesellschaft, 2005,
ISBN: 3636070622, 176 S., Euro 7,90
"So lernt man lernen“ von
Sebastian Leitner, Herder, 2003, ISBN: 3451050609, 320 S., Euro 9,90
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Zuerst erschienen in "explore: - Kundenmagazin des TÜV Nord"