Wie rotes Fleisch das Krebsrisiko erhöhen könnte
„Unsere Daten lassen auf einen ungewöhnlichen Mechanismus schließen, der die epidemiologische Beziehung zwischen dem Konsum von rotem Fleisch und dem Krebsrisiko erklärt“, schreiben Ajit Varki und Kollegen von der University of California in San Diego. Die Forscher ermittelten zunächst den Gehalt verschiedener Nahrungsmittel an N-Glycolylneuraminsäure, abgekürzt auch Neu5Gc genannt. Dieser Typ von Sialinsäure ist bei vielen Tieren ein Bestandteil von Schleimen und Zellmembranen, während im menschlichen Körper stattdessen nur N-Acetylneuraminsäure vorkommt. Geflügelfleisch, Eier, Milch, Obst und Gemüse enthielten kein Neu5Gc. Auch Fische waren frei davon – allerdings wurde für Kaviar sogar der höchste Gehalt gemessen. Käse enthielt mittlere Mengen an Neu5Gc, Rind- und Schweinefleisch ergaben hohe Werte. Der größte Teil lag – auch nach dem Kochen – gebunden an andere Biomoleküle vor. Bei der Verdauung wird das Neu5Gc freigesetzt und unverändert in verschiedenen Geweben des Körpers abgelagert. Das menschliche Immunsystem reagiert darauf, indem es Antikörper bildet, die sich an Neu5Gc anlagern und chronische Entzündungen auslösen können, wie frühere Arbeiten gezeigt haben.
Ob diese Immunreaktionen auch das Krebsrisiko erhöhen, untersuchten die Forscher an genetisch veränderten Mäusen, die – wie der Mensch – nicht mehr fähig sind, Neu5Gc zu bilden. Wenn solche Mäuse zwölf Wochen lang mit Neu5Gc-haltiger Nahrung gefüttert wurden, kam es zu starken Entzündungsreaktionen im ganzen Körper, bei normalen Tieren dagegen nicht. In Gegenwart von Antikörpern gegen Neu5Gc, die entweder injiziert oder zuvor durch Immunisierung von den Mäusen selbst gebildet worden waren, entwickelten sich dann bei fast 50 Prozent der Tiere nach 50 bis 85 Wochen Lebertumoren. Bei den normalen Mäusen waren es nur maximal 9 Prozent. In den Tumoren der genetisch veränderten Tiere fanden sich besonders starke Ablagerungen von Neu5Gc, was auch von menschlichen Tumoren bekannt ist. Allerdings sind bei Menschen weniger die Leber als vielmehr Darm, Prostata und Eierstöcke betroffen. Diese Ergebnisse seien, so die Autoren, ein Beispiel dafür, dass das ansonsten vor Krebs schützende Immunsystem die Krebsbildung auch fördern kann.
Klinische Studien müssen nun zeigen, inwieweit die Resultate auf den Menschen übertragbar sind. So wollen die Forscher beispielsweise klären, ob der Blutspiegel an Neu5Gc-Antikörper tatsächlich mit dem Krebsrisiko zusammenhängt, was zu erwarten wäre. Interessant wäre es zudem zu untersuchen, ob ein Zusammenhang mit der Wahrscheinlichkeit besteht, an Arteriosklerose oder Diabetes vom Typ 2 zu erkranken, da chronische Entzündungen auch die Entwicklung dieser Krankheiten begünstigen. Ein moderater Konsum von rotem Fleisch könne durchaus Teil einer gesunden Ernährung junger Menschen sein, sagt Varki. Empfehlungen darüber, welche Mengen als unbedenklich einzustufen wären, seien derzeit noch nicht möglich und könnten individuell unterschiedlich sein.
Es gibt mehrere andere Theorien, die zu erklären versuchen, wie der häufige Konsum von rotem Fleisch über einen längeren Zeitraum das Krebsrisiko erhöhen kann. Beispielsweise könnten mutationsauslösende Substanzen, die bereits im rohen Fleisch vorhanden sind oder erst beim Braten entstehen, oder auch die Erzeugung freier Radikale dafür verantwortlich sein. Keine dieser möglichen Mechanismen konnte bisher bewiesen werden.