Klein, aber oho

Bahnbrechende Erkenntnisse stammen vor allem von kleineren Arbeitsgruppen
Sehr viele Forscher zählen zur CMS-Kollaboration am Cern. Doch kleinere Arbeitsgruppen haben die besseren Chancen, bahnbrechende Ergebnisse zu liefern.
Sehr viele Forscher zählen zur CMS-Kollaboration am Cern. Doch kleinere Arbeitsgruppen haben die besseren Chancen, bahnbrechende Ergebnisse zu liefern.
© CERN
Chicago (USA) - Die Antworten auf große Fragen in der Wissenschaft verlangen nach großen Arbeitsgruppen. Sowohl die Suche nach dem Higgs-Boson als auch die mit einer Milliarde Euro geförderte Graphen-Forschung belegen diesen Trend zu personalstarken Kollaborationen. Doch bahnbrechende Resultate auf allen Wissensgebieten – von der Physik über Informatik und Medizin bis zu den Sozialwissenschaften – stammen vor allem von kleinen Arbeitsgruppen. Zu diesem Ergebnis kommen amerikanische Forscher von der University of Chicago und der Northwestern University. Ihre in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlichten Analyse hat das Potenzial, die Bewertung wissenschaftlicher Arbeit auf eine neue Basis zu stellen. Auch die damit verknüpfte Vergabe von Fördergeldern sollte zugunsten kleinerer Gruppen neu organisiert werden.

„Große Arbeitsgruppen agieren fast immer konservativer“, sagt James Evans, Direktor des Knowledge Lab an der University of Chicago. Ihre Arbeit sei vergleichbar mit Fortsetzungen eines Blockbusters – sehr reaktiv ohne nennenswertes Risiko. Kleine Gruppen dagegen seien mutiger und fokussierten sich eher auf ungewöhnliche, neuartige Ansätze. Das ist öfter mit dem Risiko verbunden, dass ihre Ergebnisse lange brauchen, um von Kollegen wahrgenommen und anerkannt zu werden. Aber dadurch eröffnen sie bisher unbekannte Forschungswege und legen eher die Grundlage für neue Entwicklungen.

Für diese Analyse untersuchten Evans und Kollegen mehr als 65 Millionen wissenschaftliche Veröffentlichungen, Patente und Software-Entwicklungen aus dem Zeitraum von 1954 bis 2014. Dabei griffen sie nicht auf die heute üblichen Bewertungsfaktoren wie Impact-Faktor einer Zeitschrift oder die reine Anzahl von Zitierungen wieder. Vielmehr nutzten sie eine neue, etwas komplexere Bewertungsmethode, um den disruptiven Effekt der Arbeiten – also dessen bahnbrechendenden Charakter in einem Forschungsfeld – zu bestimmen.

Bei dieser Methode analysierten die Forscher sowohl Häufigkeit als auch die Qualität der Zitierungen eines Artikels. Wenn ein Artikel zitiert wird und zugleich weitere Quellen aus der Zitatliste desselben Artikels genannt werden, handelt es sich eher um eine konsolidierende Folgearbeit zu einem Thema. Wird dagegen nur der Artikel selbst zitiert und keine weitere Quelle aus der Zitatliste übernommen, gilt die Arbeit als disruptiv und bahnbrechend. Denn handelt es sich um einen grundlegenden Artikel, der erstmals einen völlig neuen Forschungsansatz beschreibt, genügt es, nur genau diese Quelle zu zitieren. Nach diesem relativ einfachem Prinzip ordneten Evans und Kollegen jeder Veröffentlichung einen Wert zwischen -1 und 1 zu. Je höher dieser Wert lag, desto disruptiver der Artikel.

Mit insgesamt fünf voneinander unabhängigen Methoden überprüften die Forscher, ob diese Artikel-Bewertung tatsächlich tragbare und plausible Ergebnisse liefern konnte. So rangierten hunderte Paper, auf denen Nobelpreise beruhten, klar bei hohen disruptiven Werten. Zudem befragten die Forscher Experten verschiedener Disziplinen nach den wichtigsten Veröffentlichungen in ihrem Forschungsfeld. Genannt wurden etwa die Fraktal-Idee von Benoît Mandelbrot, die Energieverteilung in Strahlungsspektren von Max Planck oder die Helix-Struktur des Erbguts von Francis Watson und James Crick. Alle diese Artikel wiesen sehr hohe Werte für ihren disruptiven Charakter auf. Zuletzt analysierten Evans und Kollegen sogar die Wortwahl in Titel und Abstract eines Artikels. Verben wie „introduce“, „advance“ oder „change“ fanden sich gehäuft in disruptiven Artikeln. „Demonstrate“, „confirm“ oder „endorse“ dagagen in Arbeiten, die eine grundlegende Idee aufgriffen, bestätigten und weiter entwickelten.

Anhand dieser Skala betrachteten die Forscher im Detail die Anzahl der jeweils beteiligten Autoren. Bei einem bis zehn Autoren sank der disruptive Wert im Durchschnitt aller Artikel mit jedem weiteren Autor ab. Auch wenn gleiche Autoren von kleinen in größere Gruppen wechselten, wirkte sich dieser Effekt aus. Mit diesen Wechseln sank der disruptive Wert der Veröffentlichungen mit hoher statistischer Signifikanz.

„Aber insgesamt sind sowohl kleine wie auch große Arbeitsgruppen essentiell für den wissenschaftlichen Fortschritt“, betont Evans. Kleine Gruppen legen die Grundlagen für eine neue Denkrichtung oder einen neuen Forschungsansatz. Große Gruppen treiben diese Idee aber deutlich weiter und entwickeln effiziente und konkrete Anwendungen. Kleine Gruppen greifen dabei eher ältere, vergessene Ideen auf und stellen neue Fragen. Größere Gruppen dagegen fokussieren sich auf bekannte Ansätze, entwickeln diese weiter und stabiliseren etablierte Annahmen.

Auf der Basis dieser Studie schlagen Evans und Kollegen vor, den derzeitigen Trend zur Förderung größerer Gruppen zu überdenken. So sei es sinnvoll, mehr kleine und voneinander unabhängige Arbeitsgruppen zu fördern, um bahnbrechende, völlig neue Forschungsansätze zu erhalten. Diese könnten dann von größeren Gruppen aufgegriffen und weiter entwickelt werden. „Viele Ansätze kleiner Gruppen werden zwar auch scheitern“, sagt Evans. „Aber wenn man eine neue Entdeckung machen will, muss man Mut zum Spiel haben.“

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