Warum der Sonnentau so lange Blütenstängel hat

"Die experimentellen Daten zeigen, dass die Erklärung der Lehrbücher falsch ist. Es geht nicht um Nahrung, sondern um Sex", sagt Bruce Anderson von der University of Stellenbosch in Südafrika. Er beobachtete die Bestäubung von jeweils 500 Pflanzen zweier benachbart wachsender Arten des Sonnentaus. Die eine, Drosera pauciflora, bildet einen über 15 Zentimeter langen Blütenstiel, während die Blattrosette mit den Klebefallen in Bodennähe bleibt. Die andere, Drosera cistiflora, hat nur drei Zentimeter lange Stiele, so dass die Entfernung zwischen Blüte und Blätter viel geringer ist. Wenn die gängige Bestäuber-Schutz-Hypothese zur Erklärung langer Blütenstiele zuträfe, müssten beim langstieligen Sonnentau weniger Bestäuber an den klebrigen Tentakeln hängen bleiben als beim kurzstieligen.
Es stellte sich aber heraus, dass in beiden Fällen keine Bestäuber in die Falle gingen. Alle Beutetiere waren kleiner als zwei Millimeter, während als Bestäuber überwiegend mehr als fünf Millimeter große Käfer dienten. Die durch lange Stiele bewirkte räumliche Trennung zwischen Blüte und Fangblatt hatte also keinen Schutzeffekt. In einem weiteren Experiment setzte der Biologe Blüten mit langen und durch Abschneiden verkürzten Stielen derselben Sonnentau-Art in Röhrchen, die er im Boden vergrub. "Die Blüten waren identisch. Der einzige Unterschied war ihre Höhe", sagt Anderson. Das Ergebnis war eindeutig: Die langstieligen Blüten wurden zehnmal häufiger von Insekten besucht als die anderen. Das spricht für die Bestäuber-Anziehungs-Hypothese. "Der Sonnentau erhöht durch die langen Blütenstiele die Chance der Bestäubung und maximiert damit den Fortpflanzungserfolg", so Anderson. Das heißt, dass sich langstielige Blüten bei Fleisch fressenden und anderen Pflanzen aus dem gleichen Grund entwickelt haben. Übermäßig lang dürfen die Stiele aber auch nicht werden. Denn mit ihnen wächst die Gefahr, Pflanzen fressenden Säugetieren zum Opfer zu fallen.