Stromnetz: Gleichstromtrassen für Deutschland

Netzentwicklungsplan sieht 51 Ausbaumaßnahmen bis 2022 vor – Potenzial moderner Gleichstromtechnologie wird noch nicht ausgeschöpft
Kreuzungspunkt einer 110.000 Volt Freileitung
Kreuzungspunkt einer 110.000 Volt Freileitung
© Kreuzschnabel, http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de
Berlin - Der bislang stockende Ausbau des Stromnetzes in Deutschland könnte in den kommenden Jahren deutlich beschleunigt werden. Dazu legte die Bundesnetzagentur heute ihren aktualisierten Netzentwicklungsplan vor – 51 von ursprünglich 75 Vorhaben für die erste Ausbauphase werden darin bestätigt. Quer durch Deutschland sollen allein drei Gleichstromtrassen den Transport von Windstrom im Norden zu den Industriezentren im Süden der Republik erleichtern. Für die Umsetzung wird eng mit den vier Betreibern der Übertragunsnetze – TenneT, Amprion, 50Hertz und Transnet – zusammengearbeitet, um die Versorgungssicherheit bei steigendem Anteil an Wind- und Solarstrom zu gewährleisten. Parallel könnten beschleunigte Genehmigungsverfahren die Einhaltung des ambitionierten Zeitplans erleichtern.

„Im Ergebnis bestätigen wir heute nur die Netzausbauvorhaben, die nach strengen Kriterien auch unter veränderten energiewirtschaftlichen Bedingungen unverzichtbar sind“, sagt Jochen Homann, Präsident der Bundesnetzagentur. Das bedeute allerdings nicht, dass die anderen Maßnahmen dauerhaft als nicht erforderlich eingestuft würden. Neben den jeweils bis zu 770 Kilometer langen Gleichstromleitungen wird ein Ausbau bereits vorhandener Trassen erfolgen, um größere Strommengen zuverlässig transportieren zu können. Da Anwohner über neue Hochspannungsmasten in ihrer Nachbarschaft selten erfreut sind, konnten Bürger zwei Monate lang ihre Bedenken und Vorschläge zu dem Bundesnetzplan einreichen. Über 3.300 Stellungnahmen, die in die Planung mit einfließen können, verzeichnete die Bundesnetzagentur. Der überwiegende Teil stammte von interessierten Privatpersonen.

Die Netzplaner setzen für den Ausbau allein auf heute etablierte, verfügbare Technologie. Bahnbrechende Entwicklungen für ein leistungsfähiges Gleichstromnetz aus den vergangenen zehn Jahren werden kaum berücksichtigt. Damit steigt das Risiko, dass mit einer starren, konservativen Netzplanung Milliarden verschleudert, unnötige Leitungen Landschaften zerschneiden und die Chancen auf eine grundlegende Wende zu erneuerbaren Energien in einem europäischen Netzverbund verspielt werden. „Ein Gleichstromnetz kann drei Schlüsselprobleme der erneuerbaren Energien lösen: Man braucht deutlich weniger neue Leitungstrassen, weniger Speicher und wesentlich weniger neue Regelkraftwerke“, sagt Rainer Marquardt, Professor für Leistungselektronik und Steuerungen an der Bundeswehr-Universität München. Um diese Vorteile der Gleichstrom-Technologie nutzen zu können, müssen die Leitungen miteinander vernetzt werden. Ziel ist ein sogenanntes Overlay-Gleichstromnetz, das in Zukunft europaweit ausgebaut werden könnte. Ersetzen soll es das existierende Drehstromnetz nicht. Jedes Netz wird seine eigene Aufgabe haben und beide Netze brauchen sich gegenseitig.

Auf diesem Weg präsentierte Marquardt schon vor zehn Jahren seine Erfindung des „Modularen Multilevel-Konverters“, die die Grundlage für eine verlustarme Stromübertragung über vernetzte Gleichstromleitungen (HGÜ) legte. Zusammen mit weiteren Entwicklungen im letzten Jahrzehnt birgt die Erfindung ein enormes Potenzial für eine Energiewende in ganz Europa. „Es bildet die entscheidende Infrastruktur für den Umstieg auf Erneuerbare Energien“, ist der Münchener Ingenieur überzeugt. So können mit Gleichstromtrassen nicht nur die Übertragungsverluste um 30 bis 50 Prozent reduziert werden – im Vergleich zu Drehstromleitungen. Mit der noch relativ jungen „Voltage Source Converter“-VSC-HGÜ-Technik bleiben Gleichstromleitungen zudem keine isolierten Stromautobahnen mehr, sondern können sehr gut zur Stabilisierung der Drehstromnetze beitragen. Damit ließe sich sogar das Risiko für Blackouts mindern, da HGÜ-Netze die Rolle von Strom einspeisenden Kraftwerken übernehmen könnten.

Der Grund für diese Vielseitigkeit findet sich weniger in den Leitungen selbst, die sowohl unsichtbar als Erd- oder Seekabel als auch überirdisch in Freileitungen geführt werden können. Die jeweiligen Endpunkte der Stromautobahnen zeigen, wie Elektroingenieure die Gleichstromtechnik vorangebracht haben. Hier stehen die wichtigen Konverter-Stationen, die verknüpfenden Schaltzentralen, die aus Gleichstrom Drehstrom machen und für den Anschluss an das bestehende Stromnetz unverzichtbar sind. Für klassische HGÜs übernehmen sogenannte Thyristoren die Aufgabe von „Stromventilen“ und koppeln Gleichstrom- mit Drehstromnetz. Aus Halbleiterschichten aufgebaut und mit dicken Keramikmänteln umhüllt füllen diese Anlagen ganze Hallen. Etwa dreimal kleiner dagegen fallen diese Konverter für VSC-HGÜs aus. Der Schlüssel für VSC-HGÜ-Konverter sind leistungselektronische Elemente, die sogenannten IGBTs. Das Kürzel steht für „Insulated-Gate Bipolar Transistor“, einen Transistortyp, der speziell auf die Regelung von Gleichstrom auf Hochspannung zugeschnitten ist. Rund 3.000 dieser IGBTs werden pro Konverter-Station miteinander verschaltet und können Hochspannungen von derzeit bis zu 320.000 Volt kontrollieren.

Für ein engmaschiges Gleichstromnetz sind zusätzlich sogenannte Leistungsschalter zwingend nötig, um beispielsweise nach einem Blitzschlag eine beschädigte Teilstrecke so schnell wie möglich vom übrigen Netz abzutrennen. Sonst könnte ein weitreichender Stromausfall die Folge sein. Mit Hochdruck wird in der Industrie und an den Instituten der Leistungselektroniker an einer Lösung gearbeitet. Und erst vor wenigen Wochen verkündete das Unternehmen ABB einen wichtigen Fortschritt: Mit der Kombination von mechanischen und elektronischen Komponenten gelang der Bau eines extrem schnellen Moduls. Innerhalb von gerade mal fünf Millisekunden kann der neue Hybrid-Leistungsschalter einen Gleichstromfluss auf 320.000 Volt unterbrechen.

Mit diesen Leistungsschaltern rückt ein Overlay-Gleichstromnetz in den Bereich des Möglichen. So könnte im Sommer ein Windstromüberschuss an der Nordsee auf direktem Weg Klimaanlagen in Italien versorgen oder im Winter Solarstrom aus Südspanien elektrische Heizungen in Polen. Durch den transkontinentalen Ausgleich von Leistungs- und Verbrauchsspitzen sinkt regional der Bedarf an Speichern, und die bereits verfügbaren Pumpspeicherkraftwerke in den Alpen oder Skandinavien könnten besser ausgelastet werden. Und schließlich sinkt der Bedarf an zusätzlichen Kraftwerken, die heute noch für einen Ausgleich der schwankenden Stromausbeute aus Wind- und Solarparks geplant werden.

Laut Marquardt existieren neben dem ABB-Leistungsschalter schon weitere geeignete Schaltungskonzepte und erfolgversprechende Labor-Prototypen, die schon bald ihre Serienreife erreichen könnten. Dieser hohe Entwicklungsstand der HGÜ-Technik sei bisher leider weitgehend unbemerkt von der Politik und den Netzbetreibern geblieben. In den aktuellen Ausbauplänen für das deutsche und europäische Stromnetz kommt diese Technik daher allenfalls als Randnotiz vor. Ein Gleichstromnetz, das die Energie elektronisch steuerbar jederzeit dorthin leitet, wo man sie braucht, wird gemäß des aktuellen Ausbauplans im kommenden Jahrzehnt nicht umgesetzt werden. Doch es könnte mit seinen drei HGÜ-Trassen einen ersten Startpunkt setzen.

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