Non-verbale Kommunikation: Kinder blinder Mütter nicht im Nachteil
„Tatsächlich könnte die Notwendigkeit, zwischen unterschiedlichen Arten der Kommunikationsstrategien hin und her zu schalten, andere Fähigkeiten während der Entwicklung verstärken“, schreiben Atsushi Senju vom Birkbeck College der University of London und seine Kollegen. Die Psychologen hatten die ersten Lebensjahre von fünf Kindern verfolgt, deren Mütter blind oder massiv sehbehindert waren und auch die primären Bezugspersonen. Jeweils zweimal untersuchten die Forscher die Kleinen in ihrem Institut: ein erstes Mal mit 6 bis 10 Monaten, ein zweites Mal mit 12 bis 15 Monaten. Eine Folgeuntersuchung fand bei einem Besuch zu Hause im Alter von zwei bis vier Jahren statt. Jedes Mal führten die Forscher mehrere Tests durch – etwa dazu, wie die Babys und Kleinkinder Gesichter vertrauter oder fremder Personen betrachten, Blickkontakt aufbauen und die Blickrichtung verfolgen, wie Mutter und Kind im Spiel miteinander interagieren. Zudem setzten sie standardisierte Lerntests zu verbalen und nicht-verbalen Fähigkeiten ein, um die Entwicklung zu verfolgen. Als Vergleichsgruppe dienten 51 Kinder sehender Eltern.
Das Ergebnis: Obwohl die Mütter blind waren und so keinen Blickkontakt aufbauen konnten, zeigten ihre sehenden Kinder größtenteils eine völlig typische Entwicklung der sozialen Kommunikationsfähigkeiten. Weder neigten sie im Baby- und Kleinkindalter dazu, den Blickkontakt zu meiden, wie es zum Beispiel häufig bei autistischen Störungen vorkommt, noch hatten sie Schwierigkeiten, dem Blick anderer zu folgen. Diese Kinder schauten allerdings nach der eigenen Mutter anders als nach Fremden, die sehen konnten: Bereits beim ersten Test im Alter von 6 bis 10 Monaten richteten sie seltener als Kinder sehender Mütter den Blick direkt zur Mutter. Beim zweiten Test nutzen sie darüber hinaus häufiger verbale Kommunikation als ihre Altersgenossen. Außerdem beobachteten die Psychologen, dass Kinder blinder Mütter während der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres ihren Altersgenossen in der allgemeinen Entwicklung voraus waren. Besonders bemerkbar machte sich das in Bereichen, die mit visuellem Gedächtnis und Aufmerksamkeit zusammenhingen.
Ein ähnlicher Entwicklungsvorsprung in diesem Alter ist bei Kindern zu beobachten, die mehrsprachig aufwachsen. Im Umgang mit unterschiedlichen Erwachsenen zwischen dem visuellen und dem akustischen Bereich der Kommunikation wechseln zu müssen, könnte bei Kindern blinder Mütter ebenfalls dazu führen, dass bestimmte Aspekte in der Entwicklung gefördert werden, so die Vermutung der Forscher. Auch bei der Folgeuntersuchung im Alter zwischen zwei und vier Jahren fanden sich bessere Leistungen bei der visuellen Aufnahmefähigkeit, nicht aber bei der zweiten Untersuchung.
„Erstens legen die Ergebnisse nahe“, schreiben Senju und seine Kollegen, „dass Kleinkinder lernen können, ihre sensorischen Kanäle für die soziale Kommunikation zu verändern, um sich an ihre blinden Eltern anzupassen.“ Die Entwicklung non-verbaler Kommunikation sei demnach vermutlich bis zu einem gewissen Grad formbar. Zweitens verdeutlichten die Ergebnisse laut Ansicht der Psychologen, dass Kinder nicht zwingend die Fähigkeit verlieren, Blicke und Blickrichtungen zu verstehen und einzuschätzen, nur weil sie weniger Erfahrungen mit visueller Kommunikation haben.
Senju und seine Kollegen bestätigen und ergänzen mit ihrer Untersuchung Ergebnisse aus früheren Studien, die ebenfalls keine Nachteile für die Kinder blinder Eltern hatten finden konnten. In diesen war jedoch nicht mit quantitativen und standardisierten Messmethoden gearbeitet worden. „Die aktuelle Studie“, betonen die Psychologen in ihren Ausführungen, „präsentiert die erste empirische, systematische Langzeituntersuchung der Entwicklung der Fähigkeiten zur sozialen Kommunikation bei sehenden Kindern mit blinden Eltern.“