Am Anfang war die Oma
„Was passiert, wenn wir von einer Lebensspanne ausgehen, wie wir sie bei den großen Affen vorfinden, und dann großmütterliche Fürsorge hinzufügen?“ – so formulierte Kristen Hawkes von der University of Utah die Frage, die sie mit einem computersimulierten Evolutionsszenario beantworten wollte. Die Ergebnisse ihres Forscherteams bestätigen nun eine bekannte Hypothese, die erklärt, wie sich die Lebenszeit des Menschen so stark verlängern konnte. Heutige Schimpansenweibchen werden mit 13 Jahren erwachsen, sterben meist in den Dreißigern kurz nach der Menopause und werden selten älter als 40. Von dieser Situation, die wahrscheinlich auch auf unsere Vorfahren zutraf, gingen die Forscher in ihrer Simulation aus. Hinzu kamen folgende Annahmen eines anfangs nur schwach ausgeprägten Großmuttereffekts: Eine fürsorgliche Betätigung beginnt frühestens mit dem 45. Lebensjahr und dauert höchstens bis zum Alter von 75. Eine Großmutter versorgt nur jeweils ein Kind. Dieses ist mindestens zwei Jahre alt, muss aber nicht unbedingt ihr Enkel sein. Bei jedem Neugeborenen tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von fünf Prozent eine Mutation auf, die entweder zu einer längeren oder kürzeren Lebensdauer führt. Und schließlich: Die Evolution beginnt damit, dass nur ein Prozent der Frauen das Großmutteralter erreicht.
In der Simulation dauerte es nur 24.000 bis 60.000 Jahre, bis der Anteil an Großmüttern unter den erwachsenen Frauen auf 43 Prozent angewachsen war. Diesen Prozentsatz findet man auch in heutigen Jäger-und-Sammler-Kulturen. In derselben Zeitspanne verdoppelte sich nach Erreichen des Erwachsenenalters die verbleibende Lebenszeit von 25 auf 49 Jahre. Theoretisch wäre es denkbar, dass sich zunächst aus anderen Gründen die Lebenszeit verlängert hat und erst infolgedessen ältere Frauen zur Kinderbetreuung übergegangen sind. Die neue Studie zeigt aber: Unter den genannten Bedingungen ist es mathematisch nachvollziehbar, dass umgekehrt großmütterliches Verhalten die Voraussetzung für ein längeres Leben geschaffen hat.
Bei Affen und anderen Säugetieren können sich die Jungen nach der Entwöhnung selbstständig ernähren. Nur Menschenkinder sind noch längere Zeit darauf angewiesen, von Erwachsenen versorgt zu werden. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass unsere Vorfahren den Urwald verlassen haben, in dem auch für Kleinkinder Früchte und andere Nahrung leicht verfügbar waren. Im trockenen offenen Grasland dagegen war die Ernährung viel schwieriger: Knollen mussten erst ausgegraben, Nüsse geknackt werden, was Kinder zunächst nicht konnten. Dass Großmütter nicht nur für sich, sondern auch für die Enkel Nahrung beschafften, war sicherlich ein großer evolutionärer Vorteil. Dieser würde sowohl die Zahl der Nachkommen erhöhen als auch eine längere Lebensdauer bewirken – ganz unabhängig vom Wachstum des Gehirns. Das widerspricht der Jagd-Hypothese, wonach sich Jagd und vermehrter Fleischkonsum sowie die Vergrößerung des Gehirns gegenseitig förderten und als Folge davon zu einer Verlängerung des Lebens beitrugen. Hawkes vermutet, dass die Großmütter am Anfang dieser Prozesse standen und die Voraussetzung für die weiteren Schritte zum modernen Menschen geschaffen haben, wozu auch kooperatives Verhalten in sozialen Strukturen gehört. Hawkes ist überzeugt: „Großmütterliche Fürsorge war der erste Schritt einer Entwicklung, die uns zu dem machte, was wir heute sind.“