Wortwahl in der Literatur belegt Egozentrik von Stadtbewohnern

Psychologin untersucht mehr als eine Million US-Bücher der vergangenen 200 Jahre auf die Verwendung von Begriffen
Graffiti: Worte an den Wänden von Großstädten
Graffiti: Worte an den Wänden von Großstädten
© Anagoria
Los Angeles (USA) - Unterschiedliche Wertesysteme, Verhaltensweisen und psychologische Entwicklungen des Menschen spiegeln sich auch in unserer Sprache wider. Dies fand eine US-Forscherin jetzt in einer Analyse von mehr als einer Million Büchern heraus, die in den vergangenen 200 Jahren in den Vereinigten Staaten veröffentlicht worden waren. In einem Vergleich mit britischen Publikationen wies sie außerdem nach, dass die Entwicklungen in Europa vergleichbar abliefen. In der Fachzeitschrift „Psychological Science“ betont die Wissenschaftlerin vor allem den Einfluss der Urbanisierung auf unsere Sprache. Schon die Wortwahl beweise, dass wir heutzutage individualistischer, egozentrischer und materialistischer seien als in der Vergangenheit. Dazu führt sie als Beispiele die vermehrte Nutzung von Worten wie „bekommen“ oder „erhalten“ an, während der Gebrauch von „geben“ oder „sich verpflichten“ abgenommen habe.

„Die Untersuchung zeigt, dass der aktuell diskutierte Individualismus keine Entwicklung der letzten Jahre ist“, sagt Patricia Greenfield von der University of California in Los Angeles. Vielmehr habe sich der Wandel über Jahrhunderte vollzogen – weil unsere Gesellschaft von einer vormals hauptsächlich ländlich geprägten Umgebung in die Städte umgezogen sei. Für ihre Untersuchungen hatte Greenfield den „Ngram Viewer“ von Google genutzt, um 1,16 Millionen englischsprachiger Bücher aus den USA zu analysieren. Diese waren zwischen den Jahren 1800 und 2000 veröffentlich worden. Zusätzlich wertete sie auch 350.000 britische Bücher aus. „Ngram Viewer“ ist ein Programm, das Buchstaben-Kombinationen, Worte oder Ausdrücke in digitalisierten Publikationen aufspürt. Greenfield betont, dass es ihr erst durch Anwendungen wie dieser möglich gewesen sei, einen solchen Vergleich durchzuführen.

Konkret beobachtet Greenfield beispielsweise einen vermehrten Gebrauch des Wortes „fühlen“, während die Verben „handeln“ oder „tun“ immer seltener vorkommen. Sie interpretiert dies als eine Zuwendung in Richtung einer eher inneren, mentalen Welt anstatt eines offenen Verhaltens nach außen. Andere Worte belegen laut der Forscherin die gewachsene Egozentrik: „einzigartig“, „individuell“ und „selbst“ gehören dazu. Die schwindende Bedeutung sozialer Beziehungen, von Autoritäten und Religion sieht sie dagegen in der abnehmenden Anwendung von „Gehorsam“, „gehören“ oder „beten“. Nur eine Ausnahme habe es gegeben, so Greenfield: Zwischen 1940 und 1970 sei der Gebrauch von „bekommen“ und „erhalten“ nicht angestiegen – wahrscheinlich eine Folge des zweiten Weltkriegs und der sozialen Bewegungen der 60er Jahre.

Kennzeichnend für eine ländlich geprägte Gemeinschaft sind für Greenfield demnach soziale Bindungen und Pflichtgefühl, Gehorsam gegenüber Obrigkeiten sowie eine starke Gläubigkeit im täglichen Leben. Hinzu kommen körperliche Aktivitäten, eine eher praktische Erziehung zu Hause sowie eine simple Technik. Auch sind die Menschen im Durchschnitt ärmer. Im Gegensatz dazu ist die städtische Gesellschaft eher durch individuelle und materialistische Werte geprägt. Persönliche Besitztümer rücken in den Vordergrund, die Technik ist komplexer und insgesamt gibt es mehr Reichtum. Die Erziehung der Kinder findet zentralisiert in Schulen statt. Gleichzeitig ist die Gesellschaft mehr auf die Kinder bzw. deren Individualisierung zentriert, findet Greenfield.

Bei ihrem Vergleich mit den Entwicklungen in Großbritannien fand die Psychologin in den vergangenen 200 Jahren die gleichen Muster wie in den USA. Um ihre Thesen weiter zu bestätigen, will Greenfield ihre Methode nun auch anwenden, um spanische, französische, russische und chinesische Bücher zu untersuchen. Laut der Forscherin war dies die erste derartige Analyse, die eine Zeitspanne von 200 Jahren untersucht und nicht nur eine oder mehrere Dekaden. Obwohl bereits Bücher vom 17. Jahrhundert bis 2008 erfasst sind, hatte sie sich auf den Zeitraum von 1800 bis 2000 konzentriert. Sie begründet dies mit der zu geringen Anzahl von Büchern vor 1800 und einer geänderten Methode der Erfassung nach 2000.

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