Wo liegt der Ursprung der europäischen Juden?
„Die Präsenz von jüdischen Bewohnern im Kaukasus und im späteren chasarischen Staat ist ab den späten Jahrhunderten vor Christi Geburt belegt. Durch den wachsenden Handel entlang der Seidenstraße, den Niedergang von Juda zwischen dem ersten und dem siebten Jahrhundert sowie durch das Erstarken von Christentum und Islam ließen sich immer mehr Juden in dieser Region nieder“, sagt der Genetiker Eran Elhaik von der John Hoskins School of Public Health in Baltimore. In den ersten Jahrhunderten hätten sich dort zudem viele mesopotamische und griechisch-römische Juden angesiedelt, intensiviert durch den Übertritt der Chasaren zum Judentum.
Das chasarische Reich war eine im heutigen Südrussland gelegene Konföderation aus mongolischen, iranischen und Turkvölkern. Ursprünglich nomadisch lebend, ließen sich diese Völker im siebten Jahrhundert nieder und gründeten ein gemeinsames Reich; zwischen dem siebten und neunten Jahrhundert konvertierte ein Großteil der Bevölkerung zum Judentum. Einige Wissenschaftler vermuten dahinter eine politische Motivation: Da das Reich zwischen muslimischen Völkern im Osten und christlichen im Westen lag, sei das Judentum als respektierter Ursprung beider Religionen möglicherweise als bester Kompromiss zwischen beiden betrachtet worden. Die Chasaren-Hypothese geht davon aus, dass die jüdischen Gruppen mit dem Zusammenbruch des Chasarenreiches nach der Invasion der Mongolen ins östliche Europa geflohen seien, wo sie gemeinsam mit Juden anderer Herkunft das osteuropäische Judentum mitbegründet hätten. Diese Fakten gelten zwar als belegt. Umstritten war bisher jedoch, in welchem Ausmaß die chasarischen Juden an der Entstehung des osteuropäischen Judentums beteiligt waren.
„Mit dem Zusammenbruch des Reiches im 13. Jahrhundert flohen viele der chasarischen Juden nach Osteuropa und emigrierten später nach Zentraleuropa, wo sie sich mit benachbarten Bevölkerungsgruppen mischten“, sagt Elhaik. Seine Forschungsergebnisse widerlegen die bislang favorisierte Rheinland-Hypothese, die annimmt, dass die heutigen europäischen Juden von isaelitisch-kanaitischen Gruppen abstammen. Mit der Einnahme Palästinas durch die Muslime im siebten Jahrhundert, so der Kern dieser These, hätten die Juden das heilige Land in Richtung Europa verlassen. Im 15. Jahrhundert sei dann ein auf etwa 50.000 Menschen geschätzter Teil dieser Gruppe vom Rheinland aus nach Osten weiter gezogen. Dort hätten sie vorrangig endogam gelebt und allen Kriegen, Epidemien und Plagen zum Trotz bis zum 20. Jahrhundert eine Gruppe von acht Millionen Menschen gestellt.
Diese Hypothese halten viele Wissenschaftler jedoch für unplausibel, denn die Juden Europas müssten dementsprechend eine starke genetische Ähnlichkeit untereinander aufweisen und hätten vorrangig Vorfahren aus dem Mittleren Osten. Tatsächlich lässt sich aber eine hohe Heterogenität der jüdischen Gemeinden und ihre nachweisliche Verwandtschaft zu Gruppen im Mittleren Osten, in Südeuropa und dem Kaukasus belegen. Elhaiks Studie bestärkt die Unwahrscheinlichkeit der Rheinland-Hypothese. Grundlage seiner Untersuchung ist ein Datensatz von 1.287 nicht verwandten Individuen und 8 jüdischen sowie 74 nicht-jüdischen Gruppen. Diese Daten untersuchte der Forscher unter anderem auf Vorfahren, Verwandtschaft, Vermischung und den geographischem Ursprung. Vorrangig konnte die Untersuchung dabei Signaturen im Genom der europäischen Juden nachweisen, die auf Ahnen aus dem Osten nahe dem Kaukasus sowie aus Europa schließen lassen.
„Als bescheidenste Erklärung für unsere Ergebnisse kann gelten, dass die osteuropäischen Juden jüdisch-chasarischen Ursprungs sind und über viele Jahrhunderte in der Region des Kaukasus geformt wurden“, schlussfolgert Elhaik. Damit wäre zwar die geografische Herkunft der osteuropäischen Juden erstmals zweifelsfrei im ehemals chasarischen Raum lokalisiert. Andere Fragen, etwa nach dem Verbleib der im siebten Jahrundert aus Palästina ausgewanderten jüdischen Gruppen oder nach der Herkunft der west- und zentraleuropäischen Juden bleiben jedoch vorerst unbeantwortet.