Report zu CERN-Besichtigung: Mehr Energie für die Weltmaschine

Zu Besuch unter Tage: Der große Teilchenbeschleuniger am CERN ist derzeit in einer langen Betriebspause und wird von halber auf die volle Energie aufgerüstet.
Blick in den geöffneten ALICE-Detektor
Blick in den geöffneten ALICE-Detektor
© D. Eidemüller
Genf (Schweiz) - Wer das Tor des europäischen Forschungszentrums CERN passiert, betritt ein eigenes Reich. Nicht an vielen Orten auf der Welt treffen kühler Verstand und heiße Forscherleidenschaft in so konzentrierter Form aufeinander. Das Gelände des CERN liegt in der Nähe von Genf, im malerischen schweizerisch-französischen Grenzgebiet. Doch hier regieren die Teilchenphysiker. Sie erforschen extreme Materiezustände, wie sie Sekundenbruchteile nach dem Urknall vorgelegen haben oder heute noch im Kosmos in extremen Umgebungen herrschen – etwa bei explodierenden Sternen oder in der Nähe Schwarzer Löcher.

Rein äußerlich unterscheiden sich die meisten Physikerinnen und Physiker nicht von den Besuchergruppen, die gerade jetzt im Sommer zahlenmäßig auffallen, da viele CERN-Angestellte im Urlaub sind. Manch einer der Wissenschaftler pflegt natürlich seinen Forscher-Look. Insgesamt liegt die Kleiderordnung jedoch zwischen leger und casual business. Was die Teilchenphysiker aber doch von den Besuchern unterscheidet, ist die Konzentration, mit der sie ihrer Arbeit nachgehen. Die meisten von ihnen wirken so fokussiert wie die Partikelstrahlen, die sie rund hundert Meter unter der Erde im weltstärksten Beschleuniger auf enorme Energien bringen, um sie dann miteinander kollidieren zu lassen.

Bei einigen wenigen von vielen Milliarden dieser Kollisionen konnten die CERN-Forscher vergangenes Jahr das lang gesuchte Higgs-Teilchen ausfindig machen. Es war der letzte noch ausstehende Baustein im sogenannten Standardmodell der Teilchenphysik. Dieses Modell, das schon einige Jahrzehnte alt ist, beschreibt in außerordentlicher Präzision alle bislang mit irdischen Mitteln zugänglichen Formen von Materie. Es liefert die Mittel, um alle bekannten Elementarteilchen und die zwischen ihnen auftretenden Kräfte mathematisch exakt zu berechnen.

Ohne das Higgs hätte diesem Modell eine zentrale Komponente gefehlt. Denn nur das Higgs-Feld, das den gesamten Kosmos durchdringt, verleiht aller anderen Materie Masse. Da zu jedem Kraftfeld aber auch ein Teilchen gehört, waren die Forscher deshalb sehr erleichtert, als sich in ihren Daten das Higgs endlich sicher abzeichnete.

„Es hat ungefähr fünfzig Jahre gebraucht, um das Standardmodell zu komplettieren“, erläutert CERN-Generaldirektor Rolf Heuer die großen Mühen, die zur Entdeckung des Higgs geführt haben. Wer sich die Experimente anschaut, die in gigantischen unterirdischen Kavernen stehen, bekommt eine Ahnung davon, wie viel Arbeit die jeweils mehrere Tausend Mitarbeiter starken Kollaborationen über Jahrzehnte in das größte Experiment der Menschheit investiert haben.

Der Large Hadron Collider, kurz LHC, genannte Teilchenbeschleuniger liegt rund hundert Meter unter der Erde. Sicherheitsschleusen lassen Mitarbeiter nur einzeln passieren, bevor ein Aufzug unser Besucherteam zügig in die Tiefe befördert. Zunächst fällt das allgegenwärtige Surren der Belüftungsanlagen auf, dann die erstaunlichen Dimensionen der unterirdischen Anlagen. Dort kreisen in zwei dünnen Rohren Pakete aus Teilchenstrahlen fast mit Lichtgeschwindigkeit im 27 Kilometer langen Tunnel: die einen mit dem Uhrzeigersinn, die anderen gegen ihn.

An vier Stellen werden diese Strahlpakete zur Kollision gebracht, so dass aus der Kollisionsenergie neue Teilchen entstehen können. Viele der so erzeugten, exotischen Partikeln sind instabil. Manche – wie etwa das Higgs – sind sogar so unbeständig, dass sie praktisch an Ort und Stelle wieder zerfallen. Die Wissenschaftler müssen mit ihren Detektoren dann aus den Spuren vieler anderer Partikel zurückverfolgen, was wann wo passiert ist.

Hierfür benötigen sie sowohl filigrane Elektronik als auch schwere Technik. In einem der vier großen Detektoren ist soviel Eisen verbaut, dass er mehr wiegt als der Eiffelturm. Die Datenmengen, die solche Geräte produzieren, entsprechen der Situation, wenn alle Menschen auf unserem Planeten gleichzeitig mehrere Dutzend Telefonate führen würden. Aber hat es wirklich diesen immensen Aufwand gebraucht, um das Higgs finden zu können?

Teilchenphysiker Hans von der Schmitt war bereits am CERN-Vorgängerprojekt Large Electron Positron Collider beteiligt, für das der große Tunnel ursprünglich gebohrt wurde. Er bekräftigt, dass der eingeschlagene Weg richtig war: „Wir haben ungefähr ab einem Jahr vorher schon gesehen, dass in einem bestimmten Energiebereich etwas Besonderes passieren könnte.“ Vor allem, dass gleich zwei Experimente unabhängig voneinander die Daten bestätigen konnten, hätte letzte Zweifel ausgeräumt: „Dass der Fund sich dann als Higgs herausgestellt hat, war der spannendste Moment meiner Karriere.“

Ab 2015 steht der nächste schwierige Schritt für die Forscher an. Denn ob das nachgewiesene Teilchen auch ganz genau das vom Standardmodell geforderte Higgs ist oder nur ein diesem sehr ähnliches Teilchen, wie es manche Theoretiker mit Nicht-Standard-Theorien vorhersagen, verlangt aufwändige Messungen.

Zur Zeit haben alle Arbeitsgruppen eine Reihe komplexer Aufgaben zu erledigen, denn der Teilchenbeschleuniger befindet sich in einer Betriebspause. Wenn er in Betrieb ist, darf wegen der Strahlung niemand den Tunnel oder die Detektorhallen betreten. Deshalb müssen die Forscher die nur alle paar Jahre stattfindenden Unterbrechungen möglichst effizient nutzen. Während die einen weiter die Daten aus den vergangenen Jahren untersuchen, nehmen die anderen den Beschleunigerring und die haushohen Detektoren auseinander, um notwendige Reparaturen und Wartungsarbeiten durchzuführen.

Natürlich versuchen die verschiedenen Kollaborationen, die aus Instituten in aller Welt zusammengewürfelt sind, weitere Verbesserungen an ihren Experimenten anzubringen. Die Ergebnisse der letzten Jahre haben einige Erkenntnisse gebracht, an welchen Stellen noch Optimierungsbedarf herrscht. Deshalb drehen die Techniker an einigen Schrauben und tauschen Geräte aus oder bauen hier und da neue Detektorkammern ein, um etwa die Bahnen der superschnellen Teilchen noch besser vermessen zu können.

Bei allen Umbauten gilt das Prinzip: Erst Sicherheit, dann Qualität, dann Zeitplan. Die Arbeitsschutzkonzepte und die Qualitätssicherung sind aufgegangen. Trotz der immensen Schwierigkeiten bei einem solchen Projekt funktionierten fast alle Komponenten der Anlage auf Anhieb wie gewünscht und teilweise besser als die Spezifikationen. Dies verdankt sich einer rigorosen Qualitätsprüfung und exakt definierten Schnittstellen, die von allen Beteiligten penibel eingehalten werden.

Das Erstaunliche am gesamten Projekt aber ist, dass – obwohl allerorten ambitioniertes technologisches Neuland betreten wird – am Ende die Zeitpläne ziemlich gut und vor allem das Budget eingehalten werden. Möglich ist dies wohl nur, weil alle Beteiligten es als Ehre auffassen, am CERN an der vordersten technologischen und naturwissenschaftlichen Grenze mitarbeiten zu dürfen.

Doch auch hier gilt: Nobody is perfect. Auch der LHC hatte eine größere Panne zu verzeichnen. Im September 2008, kurz nach der Inbetriebnahme, versagten die auf wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt gekühlten supraleitenden Magnete ihren Dienst, weil die elektrischen Verbindungen zwischen ihnen sich plötzlich erwärmten. Dies führte zu massiven Beschädigungen in einer Sektion des Magnetsystems, so dass erst ein Jahr lang Reparaturen und Nachbesserungen anstanden, bevor der Messbetrieb wieder anlaufen konnte.

Aus Sicherheitsgründen entschieden die Forscher, den Beschleuniger zunächst bei halber Energie laufen zu lassen. Erst bei der jetzigen Betriebspause ersetzen Techniker rund zehntausend Verbindungen zwischen den Magneten komplett durch bessere Module, so dass der Beschleuniger ab 2015 die volle geplante Energie erreichen wird. Dann wird die Jagd nach neuen, unbekannten Teilchen weitergehen. Die Strahlqualität und Fokussierung sollen dann sogar noch besser sein als ursprünglich Spezifikationen veranschlagt.

Nächstes Jahr feiert das CERN seinen sechzigsten Geburtstag. Und Grund zum Feiern gibt es allemal. 1954 wurde das Forschungszentrum auf Initiative führender Wissenschaftler gegründet, die sich darum sorgten, dass nach dem Krieg alle aufstrebenden jungen Forscher aus Europa in die Vereinigten Staaten gehen mussten, um neue Physik zu betreiben. Heute haben sich die Vorzeichen umgedreht: Aus aller Welt kommen Physikerinnen und Physiker nach Genf, um ihre Neugier zu befriedigen.

© Wissenschaft aktuell
Quelle: Eigener Bericht.


 

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