Neues Teilchen - Historischer Tag für die Physik
Heute morgen nun hat das europäische Teilchenphysikzentrum CERN in der ersten Physik-Pressekonferenz über zwei Kontinente - per Videoschaltung zwischen Genf und Melbourne - die Entdeckung eines hierzu passenden, unbekannten Teilchens bekannt gegeben. Der weltgrößte Teilchenbeschleuniger LHC des CERN bei Genf erreicht die höchsten Teilchenenergien und besitzt mit den beiden Großdetektoren CMS und ATLAS die komplexesten Stücke Technik der Menschheit. Den Nachweis des neuen Teilchens bezeichnen die Sprecher der Experimente, Joe Incandela für CMS und Fabiola Gianotti für ATLAS, mit fünf Sigma als sicher. Bei diesem Wert beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass die Forscher sich irren, nur noch 0,000057 Prozent, also weniger als eins zu einer Million. Wenn die beiden Großdetektoren demnächst ihre Ergebnisse kombinieren, wird die Nachweiswahrscheinlichkeit weiter steigen. Die Ergebnisse sind völlig konsistent mit dem prognostizierten Higgs-Boson. Die sichere Identifikation des Teilchens als Higgs-Boson steht allerdings mit den jetzigen Ergebnissen noch aus; es könnte sich auch der unwahrscheinliche Fall ereignen, dass das gefundene Objekt ein bislang unerwartetes Teilchen ist und nicht das Higgs-Boson. Im Lauf dieses oder der nächsten Jahre hofft man, dies mit weiteren Daten ausschließen zu können.
Nach einigen sensationsheischenden Vorankündigungen in den letzten Jahren waren die Sprecher auf dieser Konferenz sehr vorsichtig, keine unbelegbaren Aussagen zu machen. Die enthusiastische Stimmung zeigte jedoch, dass die meisten Anwesenden wenig Zweifel hegten, endlich das gesuchte Teilchen gefunden zu haben. Peter Higgs, der der Pressekonferenz beiwohnte, dankte allen Beteiligten und zeigte sich tief gerührt: „Dies ist einer der außergewöhnlichsten Tage meines Lebens.“ Rolf Heuer, Generaldirektor des CERN, pflichtete ihm bei: „Nicht nur ihres Lebens!“
Es könnte sich damit bald herausstellen, dass eine über 50 Jahre dauernde Suche zu Ende geht. Auf allen Kontinenten und in Dutzenden Ländern arbeiteten viele tausend Wissenschaftler und Techniker seit Jahrzehnten auf diesen Moment hin. Um die enormen Anstrengungen zu verdeutlichen: Die Schwierigkeit, aus den unzähligen Daten an Teilchenkollisionen in den Detektoren die entscheidenden Zerfälle herauszusuchen, entspricht der Suche nach wenigen Dutzend markierten Sandkörnern in einem ganzen Schwimmbad voller Sand.
Mit der heutigen Pressekonferenz hat eine Sternstunde der modernen Teilchenphysik geschlagen, die als einer der wichtigsten Tage der Naturwissenschaft des 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird. Wenn in wenigen Monaten oder Jahren ausgeschlossen werden kann, dass das gefundene Teilchen etwas anderes ist als das Higgs-Boson, steht der Schlussstein der heutigen Standardtheorie der Materie. Die künftigen Entwicklungen in Theorie und Experiment werden entscheidend auf diesen Ergebnissen aufbauen. Und selbst wenn das nun entdeckte Teilchen nicht das Higgs-Boson sein sollte, wird die Untersuchung dieses Teilchens auf neue Physik führen.
Eine gern gestellte Frage ist die, warum ein Kraftfeld gleichzeitig mit einem Teilchen verknüpft ist. Die Teilchenphysik ist zwar ein abstraktes Geschäft, doch für das Higgs-Boson gibt es eine anschauliche Erklärung. Die Masse verleiht das Kraftfeld, indem es mit den verschiedenen Teilchen unterschiedlich stark wechselwirkt: Genauso wie ein Schwarm von Reportern einem Prominenten je nach seiner Bekanntheit eine größere Trägheit verleiht, wenn er durch einen Raum mit Reportern geht und diese sich an ihn heften. Das Higgs-Boson als Teilchen entsteht bei einer bestimmten Energie durch die Wechselwirkung dieses Kraftfeldes mit sich selbst. Sie entspricht in diesem Bild dann einem Gerücht, das in den Raum voller Reporter hineingesprochen wird. Ist das Gerücht stark, sprich: energiereich, genug, zieht es alle Journalisten für kurze Zeit zusammen. Was auch immer heute gefunden wurde: Das neue Teilchen in all seinen Wechselwirkungen zu untersuchen, wird die Gemeinschaft der Teilchenphysiker noch über Jahre beschäftigen und für einige Gerüchte unter Journalisten sorgen.