Buchmesse: Wenn der Text weiß, dass er gelesen wird
"Wir wollen zeigen: Inwieweit kann sich Text weiterentwickeln? Welche Möglichkeiten bietet Text, wenn er weiß, dass, wo und wie er gelesen wird?", sagt Ralf Biedert vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). Gemeinsam mit Georg Buscher und Andreas Dengel entwickelte er die Prototypen, welche künftige Lesemöglichkeiten aufzeigen sollen. "Was den Text empathisch macht, ist der Eyetracker", beschreibt Biedert die technische Voraussetzung für Text 2.0. Ein handelsübliches Blickverfolgungssystem muss mit dem Rechner verbunden werden. Im Prototypen des DFKI ist es ein unauffällig am Bildschirm angebrachtes Infrarotsystem, dessen Strahlen vom Auge des Lesers reflektiert werden. Ein Kamerasystem registriert die Reflexion und kann so die jeweilige Blickposition und -bewegung auf dem Text am Bildschirm bestimmen, das Fixieren einzelner Punkte sowie die Sprunglänge und Laufgeschwindigkeit des Blickes. Dank dieser Rückkopplung steuert dann der Leser durch das Lesen selbst das Geschehen auf dem Bildschirm. Voraussetzung ist die passende Aufbereitung des Textes, die ein modifizierter HTML-Browser umsetzt. CSS, Javascript sowie Erweiterungen in Java setzen die Effekte um.
Für das Unterhaltungssystem "eyeBook" griffen die Forscher zu den beiden Klassikern "Dracula" und "Der kleine Prinz" und versahen passende Stellen mit Multimedia-Effekten. Geräusche und Musik ertönen im Hintergrund, ebenso werden Bilder oder Farbeffekte eingeblendet - "stimmungsvoll aber unaufdringlich" soll dies ablaufen und kann auch als neue Kunstform verstanden werden, meinen die Wissenschaftler. Das "Augmented Text System" hingegen soll künftige Möglichkeiten des Informationsmanagements aufzeigen: Der Prototyp zeigt Darwins Grundlagenwerk "The Origin of Species" - "Die Entstehung der Arten". Erkennt das System nun, dass der Blick einzelne Wörter umkreist oder fixiert, schließt er auf Unverständnis und blendet etwa bei Fremdwörtern Erklärungen oder Übersetzungen ein. So genannte intelligente Fußnoten greifen auf angeschlossene Datenbanken zurück, darunter auch Wikipedia, und können obendrein Konzepte im Text erläutern. Fixiert der Blick lange oder komplizierte Wörter, so blendet sich eine Silben- oder Sinntrennung ein. Fehlt das Fixieren auf den Text, so schließt das System auf abschweifenden Blick und markiert die zuletzt gelesene Stelle mit einem roten Pfeil. In Kombination mit einem Mikrofon kann der Leser sein Bedürfnis gar über kurze Befehle oder Fragen ans System kundtun, zurzeit vor allem auf Englisch: "Explain that" oder "Pronounce this word", "sprich es aus". Und wird die Blickverfolgung speziell auf den individuellen Leser kalibriert, so kann eine Erweiterung namens "Quick Skim" sogar wahrnehmen, dass die Augenbewegung das übliche Lesetempo übersteigt. Dann blendet sie - für ein effektiveres Überfliegen - weniger wichtige Wörter vorübergehend aus, so dass aus einem blassgrauen Text nur die wichtigen schwarz hervorspringen: umso weniger, je schneller die Augenbewegung.
Derzeit sammeln die Forscher Reaktionen und Rückmeldungen von Nutzern zum System, so Biedert: "Einige sagen, sie lesen lieber normal, ohne die Effekte. Und andere, jüngere vor allem, sind begeistert und wollen mehr". Auf der Frankfurter Buchmesse sind beide Varianten in Halle 4.2, Stand K441 auszuprobieren. Diverse technische Feinheiten von Text 2.0 seien in den kommenden Jahren noch zu lösen, nicht zuletzt der bislang sehr enge Bewegungsbereich für den Kopf, so die Forscher. Weiterhin arbeiten sie daran, einen Teil der Fähigkeiten von Text 2.0 auf mobile Lesegeräte zu übertragen, die über keine Blickverfolgung verfügen. Das System "myeBook" könnte über das Scrollen die individuelle Lesegeschwindigkeit registrieren und Effekte immerhin grob passend einblenden.
DOI: 10.1007/s00287-009-0381-2