Weniger Emotionen, mehr Angst: Das Buch als Spiegel unserer Zeit
„Studien zur Wortverwendung in Texten können einen Zugang zu den alltäglichen Einstellungen der Masse bieten, den die etablierte Geschichts- und Politikwissenschaft übersehen können“, sagt Alberto Acerbi von der University of Bristol. Zahlreiche Untersuchungen zur Sprachverwendung neuer sozialer Medien hatten bereits gezeigt, dass etwa Twitter-Meldungen Veränderungen an der Börse ankündigen können. Acerbi und sein Team nahmen es sich vor diesem Hintergrund zum Ziel, mit der Literatur des ereignisreichen 20. Jahrhunderts einen größeren zeitlichen Rahmen zu untersuchen. Dabei konzentrierten sie sich auf sechs verschiedene Stimmungskategorien: Wut, Abneigung, Angst, Freude, Überraschung, Traurigkeit. Um schnell und effizient eine repräsentative Menge an Literatur der vergangenen 100 Jahre filtern zu können, nutzten die Wissenschaftler den Ngram-Datensatz von Google. Diese Datenbank aus mehr als fünf Millionen digital gescannten Büchern bietet einen Bestand von ca. vier Prozent sämtlicher Werke aus mehreren Jahrhunderten.
Die Analyse aller seit der Wende zum 20. Jahrhundert entstandenen, so verfügbaren amerikanischen und britischen Werke bestätigte die These der Forscher. Emotional positiv oder negativ belegte Begriffe fanden sich häufiger oder seltener – je nachdem, ob die Bücher in einer Phase gesellschaftlicher Sorglosigkeit oder besorgniserregender Ereignisse geschrieben worden waren. So seien mit Freude verbundene Worte in den Zwanziger und in den Sechziger Jahren viel häufiger genutzt worden. Traurigkeit dagegen habe sich besonders während des Zweiten Weltkriegs oft in der Wortwahl gespiegelt. „Insgesamt zeigte sich aber auch, dass Stimmungswörter allgemein immer sparsamer genutzt werden“, konstatiert Acerbi. Dies habe bis in die Siebziger Jahre auch für Begriffe gegolten, die Angst beschreiben. „Im Gegensatz zu den anderen Gefühlswörtern steigt die Verwendung solcher Wörter aber wieder stark an.“ Eine weitere Überraschung sei zudem die unterschiedliche Entwicklung der Sprache in Amerika und Großbritannien: Wie die Autoren in der Studie schreiben, seien seit den 80er Jahren amerikanische Werke wesentlich „emotionaler“ als britische Bücher. Einen Trend zu mehr Gefühlswörtern gebe in der amerikanischen Literatur sogar schon seit den 60er Jahren.
Letztlich stelle sich zwar die Frage, ob der Wortgebrauch tatsächlich das Verhalten der Menschen wiedergebe, oder ob nicht umgekehrt ein Mangel an bestimmten Verhaltensweisen zu deren verstärkter Thematisierung in Texten führen, so die Forscher. „Wir glauben aber, dass die Sprachänderungen auch Kulturveränderungen spiegeln, sagt Acerbi. „Der Datensatz ist schließlich keine Top-Ten-Verkaufsliste und ganz unabhängig von den Verkaufszahlen der Bücher.“ Die genutzte Methode der Langzeit-Analyse betrachten die Forscher als einen wichtigen empirischen Beitrag zur Untersuchung gesellschaftlicher Dynamiken und kultureller Unterschiede.