Vor 35 Jahren: "Kuppelei" und Homosexualität in der Bundesrepublik nicht länger strafbar
Beides, die "Kuppelei" und die Homosexualität, hatten jahrhundertelang unter Strafe gestanden. So heißt es beispielsweise in Johann Christian von Quistorpfs "Grundsätze des deutschen peinlichen Rechts" von 1783 über "Hurenwirthschaft" und "Kuppeley": "Wann jemand vorsätzlich zur Unzucht verleitet, so geschiehet solches entweder dadurch, daß man unzüchtige Weibsbilder um Gewinnstes willen hauset, ihnen zur Uebung der Unzucht Anleitung giebet, und überdieß ein solches Geschäft zu einer Art seines gewöhnlichen Gewerbes macht, oder, daß man nur in einem einzelnen Fall zur Unzucht reizet und dazu Gelegenheit verschaffet. In dem ersten Fall ist eine eigentliche Hurenwirthschaft (Lenocinium vulgare), in dem anderen aber eine Kuppeley (Lenocinium) vorhanden." Über Homosexualität hieß es etwa in der "Constitutio Criminalis Carolin" von 1532: "Item so eyn mensch mit eymem vihe, mann mit mann, weib mit weib, vnkeusch treiben, die haben auch das leben verwürckt, vmd man soll sie der gemeymen gewomheyt mach mit dem fewer vom leben zum todt richten."
Der berühmt-berüchtigte Paragraf 175 - nach welchem homosexuelle Männer im Volksmund auch "175er" genannt wurden - existierte ab dem Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches am 1. Januar 1872. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubten Experten, dass Homosexualität zugenommen habe, denn die Zahl der Verurteilungen hatte zugenommen. Darum plante die Regierung, den Paragrafen 175 auch auf Frauen auszuweiten. Ein entsprechender Gesetzentwurf gelangte jedoch nicht mehr zur Abstimmung. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und das 1918 mit ihm endende Kaiserreich verhinderten die geplante Strafbarkeit von weiblicher Homosexualität. 1935 verschärften die Nationalsozialisten den Paragrafen 175, unter anderem durch Anhebung der Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis. Darüber hinaus wurde der Tatbestand von beischlafähnlichen auf sämtliche "unzüchtigen" Handlungen ausgeweitet. Der neu eingefügte § 175a bestimmte für "erschwerte Fälle" zwischen einem Jahr und zehn Jahren Zuchthaus.
Bei der Homosexualität ergab sich die bittere Ironie, dass sich die junge Bundesrepublik der verschärften Strafverfolgung von Homosexualität, wie sie in der Zeit des Nationalsozialismus einsetzte, anschloss. Aufgrund der im 20. Jahrhundert bereits sorgfältig geführten Statistiken weiß man, dass etwa 140.000 Männer nach den verschiedenen Versionen des Paragrafen 175 verurteilt wurden. 1969 wurde der Paragraf 175 entschärft, indem Homosexualität zwischen zwei erwachsenen Männern nicht mehr als strafbar angesehen wurde. Der Paragraf galt jedoch weiterhin, wenn einer der beiden Partner minderjährig war oder einer in einem Abhängigkeitsverhältnis zu dem anderen stand. Die alte Sichtweise, dass sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe Verstöße "gegen die Sittlichkeit" waren, blieb weiterhin bestehen. Dies änderte sich erst mit der Reform des Sexualstrafrechts von 1973. So wurde etwa im Text des Paragrafen 175 von 1969 auch weiterhin von "Unzucht" gesprochen. Erst der Gesetzestext von 1973 spricht neutral von "sexuellen Handlungen".
Im Zuge der Rechtsangleichung zwischen den beiden deutschen Staaten nach 1990 musste sich der Bundestag entscheiden, ob er den § 175 StGB streichen oder ihn in der bestehenden Form auf die neuen Bundesländer ausweiten wollte. Im Jahr 1994, mit Ablauf der Frist für die Rechtsangleichung, entschied man sich mit dem 29. Strafrechtsänderungsgesetz vom 31. Mai 1994 den § 175 StGB aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Das absolute Schutzalter für sexuelle Handlungen wie beispielsweise Geschlechtsverkehr mit Jugendlichen wurde einheitlich auf 14 Jahre festgelegt (§ 176 StGB); zusätzlich wurde für besondere Fälle der § 182 StGB mit einem relativen Schutzalter von 16 Jahren ausgeweitet und geschlechtsneutral formuliert.