Fehlerhafte Proteine verleihen Überlegenheit in der Evolution

Teamwork defekter Proteine eröffnete völlig neue Wege und machte die Entstehung komplexer Organismen aus simplen Einzellern erst möglich
Chicago (USA) - Ein Dogma gerät ins Wanken: Nicht natürliche Selektion, in der Mängel ausgemerzt werden, sei Motor der Evolution von simplen Einzellern in Richtung komplexer Organismen gewesen. Vielmehr hätten gerade Fehler in der Proteinproduktion die evolutionären Entwicklungen vorangetrieben. Das ist die Kernaussage einer im Fachblatt "Nature" veröffentlichten Studie (doi: 10.1038/nature09992). Sie legt nahe, dass defekte Proteinmoleküle innerhalb von Zellen in komplexeren Strukturen zusammenfanden und dann im Teamwork wesentlich flexibler reagieren konnten. Dadurch hatten die betroffenen Organismen einen entscheidenden Vorteil im Überlebenskampf. Diese nach Aussage der beteiligten US-amerikanischen Forscher "provokante" These könnte auch das wachsende Feld des Bioengineerings revolutionieren.

"Das ist eine völlig neue Brücke zwischen der Proteinchemie und der Evolutionsbiologie", betont Michael Lynch, Biologieprofessor an der University of Indiana. Denn bisher galten fehlerhafte Proteinstrukturen als Nachteil im Überlebenskampf. Dies treffe aber nur bei schweren Defekten und auf Lebewesen zu, die in großen Populationen auf engem Raum lebten, etwa Bakterien, so Ariel Fernandez, ein Co-Autor von der Universität Chicago. Wenn kleinere Mutationen dagegen Organismen in einer überschaubaren Population beträfen, sei der Selektionsdruck wesentlich geringer. Mehr noch: "Wir behaupten, dass gerade diese ineffektive Selektion eine Nische bietet, komplexere Lebensformen zu entwickeln."

Fernandez: "Proteinmoleküle, deren Strukturen angegriffen sind, lagern sich nämlich zusammen, um ihre empfindlichen Regionen zu schützen." Denn wäre ein defektes Protein alleine seiner Zell-Umgebung ausgesetzt, könnte es seine Aufgaben nur schlecht oder gar nicht erfüllen. Möglicherweise hätte das veränderte Protein sogar einen fatalen Effekt. In Komplexen würden sich die Proteine aber nicht nur gegenseitig schützen. Vielmehr könnten sie im Zusammenspiel als Team wesentlich anspruchsvollere Funktionen erfüllen. Daraus würde sich wiederum im anschließenden Wettkampf der natürlichen Selektion ein Überlebensvorteil ergeben.

"Wir richten uns nicht gegen das Konzept der Selektion an sich. Vielmehr argumentieren wir für einen nicht-adaptiven Mechanismus, der neue evolutionäre Wege eröffnet", heben die Wissenschaftler hervor. Und darin seien die Angriffe auf die Proteinstruktur quasi ein neues selektives Umfeld innerhalb der Zelle. Außerdem sei klar, dass zu viele oder zu schwere Strukturänderungen den Organismus gefährden. Dabei verweisen die Forscher auf hochaktive Proteine, die Krankheiten wie Alzheimer auslösen können.

Laut Fernandez bieten die Entdeckungen völlig neue Chancen für Protein-Design. Denn im Feld des Bioengineerings könnten die Evolutions-Werkzeuge genutzt werden, um beispielsweise stärkere Materialien zu erzeugen, die sich sogar selbst reparieren können. Fernandez zieht dann auch sein Fazit: "Designs der Natur sind wesentlich ausgeklügelter als die beste Ingenieurskunst."

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Quelle: Nature(doi: 10.1038/nature09992):Non-adaptive origins of interactome complexity; Ariel Fernandez & Michael Lynch


 

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