Wiege der englischen Literatur stand in der Londoner Verwaltung

Es waren mittelalterliche Verwaltungsangestellte in der Londoner Guildhall, die die Werke von Geoffrey Chaucer und anderen großen Autoren abschrieben und damit zu ihrer Verbreitung beitrugen
York (Großbritannien) - Wie verbreitete sich eigentlich Literatur, als noch nicht einmal der Buchdruck erfunden war? Normalerweise heißt es, dass diese Werke in Klöstern oder auch in weltlichen Skriptorien abgeschrieben wurden. Doch für die englische Literatur kommt nun ein weiterer wichtiger Ort hinzu: In der Londoner Guildhall, die jahrhundertelang als Rathaus diente, schrieben Verwaltungsangestellte – vermutlich während ihrer Arbeitszeit – die Werke von Geoffrey Chaucer und anderen Großen der englischen Literatur ab und trugen so zu ihrer Verbreitung bei. Dies fanden entdeckten zwei britische Wissenschaftlerinnen im Rahmen des Forschungsprojekts "Identifizierung der Schreiber, die für das Kopieren großer Werke der mittelenglischen Literatur verantwortlich waren".

"Unsere Erkenntnisse zeigen, dass nicht nur die Autoren der frühen englischen Literatur in London lebten, sondern dass auch ihre Werke von den Angestellten der Londoner Bürgermeister und Ältermänner verbreitet wurden und so durch die Stadt selbst und ihren Regierungsapparat unterstützt wurden", erklärt Linne Mooney von der University of York. Dies betrifft unter anderem Geoffrey Chaucer (um 1343 bis 1400), John Gower (um 1330 bis 1408), William Langland (um 1330 bis 1387) und John Trevisa (um 1342 bis 1402). Der bedeutendste dieser Autoren ist Geoffrey Chaucer, der in seinen "Canterbury Tales" treffsicher die wichtigsten Typen der Gesellschaft seiner Zeit beschreibt. Die "Canterbury Tales" gehören zu den mittelalterlichen Werken, die heute noch - auch über die Grenzen Englands hinaus - bekannt sind. Im Gegensatz zu Chaucer, der fest im weltlichen Leben verankert war - er war Diplomat und Zollaufseher -, gehörte William Langland vermutlich dem geistlichen Stand an. Sein wichtigstes Werk war "Vision of Piers Plowman", ein allegorisches Traumgedicht mit starken religiösen Zügen. John Gower war nachweislich mit Chaucer befreundet und zeichnet sich als formvollendeter Dichter aus. Seine virtuose Handhabung vierfüßiger Reimpaare wird immer wieder hervorgehoben. John Trevisa schließlich hat sich vor allem als Übersetzer von Werken der römischen Antike sowie lateinisch schreibender mittelalterlicher Autoren Verdienste erworben.

Linne Mooney und ihre Kollegin Estelle Stubbs konnten sogar die Namen der Angestellten identifizieren, die in der Londoner Guildhall die Werke der Schriftsteller kopierten: John Marchaunt, der in der Guildhall von 1399 bis 1417 arbeitete, schrieb die ersten vier Manuskripte der "Canterbury Tales" ab sowie Gowers "Confessio Amantis" und Manuskripte von Langland und Trevisa. Von Richard Osbarn, der von 1400 bis 1438 in der Guildhall arbeitete, kopierte frühe Manuskripte von Chaucers "Troilus and Criseyde" sowie Werke von Langland und einigen unbekannten Autoren, deren Werke offenbar extra nach London gebracht wurden, um sie hier zu verbreiten.

Eigentlich hatten diese Angestellten aber auch noch anderes zu tun: Sie waren "Clerk of the Chamber" und arbeiteten dem Kämmerer zu. Vor allen Dingen hatten sie die Entscheidungen des Kämmerers, die Fürsorge für die Waisen freier Männer betreffend, in die so genannten Kopierbücher einzutragen. Aber offenbar hat diese Arbeit sie nicht sehr ausgelastet...

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Quelle: "Identification of the Scribes Responsible for Copying Major Works of Middle English Literature", Forschungsprojekt der University of York


 

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