Vor 180 Jahren: Am 26. Mai 1828 tauchte Kaspar Hauser in Nürnberg auf -- wieviel war inszeniert?

War Kaspar Hauser wirklich ein Erbprinz des Hauses Baden, der zugunsten eines anderen aus dem Verkehr gezogen und jahrelang in einem Verlies gefangen gehalten wurde? Einiges spricht dafür, anderes nicht. Überdies hegt die moderne Sozialpsychologie den Verdacht, dass Kaspar Hauser sein eigenes Leid inszeniert hat. Für jemanden, der angeblich von aller Gesellschaft abgeschnitten war, war Kaspar Hause erstaunlich aufgeweckt und lernfähig.
"Am zweiten Pfingstfeiertage, Montag, den 26. Mai d. J. Nachmittags zwischen 4 und 5 Uhr begegnete einem hiesigen Bürger, am Eingange der Kreuzgasse dahier, bei dem s. g. Unschlitt-Platze, ein junger Mensch, dem Anscheine nach 16 und 18 Jahre alt, ohne Begleitung und fragte ihn nach der Neuthorstraße. Der Bürger erbot sich, dem jungen Menschen den Weg dahin zu zeigen, und begleitete ihn; während dessen zog dieser aus seiner Tasche einen versiegelten Brief, worauf die Adresse stand: An Tit. Hrn. Wohlgebohner Rittmeister bei der 4. Esgataron bey 6. Schwolische Regiment in Nierberg. und dies bewog den Bürger mit ihm auf die Wache vor dem neuen Thor zu gehen, um dort am ersten Auskunft zu erlangen. Auf dem weiten Weg dahin suchte der Bürger ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, überzeugte sich aber bald, daß wegen Mangels an Begriffen bei ihm solches nicht möglich sei." Der junge Mann, von dem in der Bekanntmachung des Nürnberger Bürgermeisters Binder vom 7. Juli 1828 die Rede war, hieß Kaspar Hauser und sollte bald weltberühmt werden. Bis heute gibt er Rätsel auf, aber sein Fall zeigt auch, was mit einem Menschen passiert, der seine Kindheit und Jugend ohne menschliche Gesellschaft verleben musste.

Nachdem Kaspar Hauser einige Wochen auf der Wache verbracht hatte - denn niemand konnte mit dem sich seltsam verhaltenden Jugendlichen etwas anfangen -, wurde der Staatsrat Anselm von Feuerbach in Ansbach sein Vormund. Feuerbach kümmerte sich auch persönlich um seine Betreuung und Erziehung. Zwei Jahre später übergab er Kaspar in die Obhut des Religionsphilosophen Georg Friedrich Daumer, der Kaspar selbst unterrichtete, ihn aber auch einigen Experimenten unterzog. Kaspars dritter Gönner wurde schließlich der als Reiseagent umherziehende britische Lord Stanhope, der sogar bereit war, die Kosten von Kaspar Hausers Unterhalt zu übernehmen.

Bis heute regt die ungeklärte Herkunft Kaspar Hausers die Fantasie der Menschen an. Besonders interessant und auch nicht völlig unplausibel ist eine Herkunftsgeschichte, die schon Anselm von Feuerbach ins Spiel gebracht hatte: Kaspar könnte aus fürstlich-adeligem Hause stammen und wurde vielleicht als Kind beiseite geschafft, weil er als Erbe aus irgendwelchen Gründen nicht erwünscht war. Schon bald konkretisierte sich diese Vermutung: Er sollte ein badischer Erbprinz sein, den man buchstäblich aus dem Verkehr gezogen habe, um jemand anderen auf den Thron zu setzen. Diese Theorie findet bis heute Verfechter und Gegner. Beide Seiten versuchen heute, ihre Vermutungen durch modernste Techniken wie der DNA-Analyse zu beweisen bzw. zu widerlegen.

Doch es gibt noch eine andere Theorie, die ebenso ungeheuerlich wäre wie die Erbprinzentheorie - nur nicht so romantisch. Etwa ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts begann man das, was man mittlerweile über Deprivation, Isolation, Hospitalismus und Spracherwerb wusste, zusammenzutragen und mit dem Entwicklungsstand und dem Entwicklungsfortschritt von Kaspar Hauser zu vergleichen, soweit sich dies den Quellen entnehmen ließ. Nimmt man also alle Kenntnisse zusammen, wäre es auch nicht völlig auszuschließen, dass Kaspar Hauser eine grandiose Selbstinszenierung vorgenommen hat. Nicht unbedingt in betrügerischer Absicht, sondern weil er eventuell ein Psychopath war.

Eine Kernfrage ist: Hat Kaspar Hauser tatsächlich isoliert in einem Kerker gelebt, und wenn ja, ab welchem Alter und wie lange? Kaspar konnte bei seinem ersten Auftauchen in Nürnberg nur einige Sätze sprechen, lernte dann aber bemerkenswert schnell dazu. Wäre er von frühester Kindheit an ohne Sozialkontakte gewesen, so weiß man heute aus der Spracherwerbsforschung, dann wäre das Zeitfenster für das Erlernen einer menschlichen Sprache für immer verschlossen worden. Kaspar muss also mindestens bis zum dritten oder vierten Lebensjahr unter Menschen gelebt haben. Auffallend ist außerdem, wie schnell Kaspar Hauser lesen und schreiben lernte. Ein Jahr nach seinem Erscheinen in Nürnberg konnte Kaspar bereits ein Gedicht zu Papier bringen. Für jemanden, der angeblich erst kurz zuvor alphabetisiert wurde, ist das eine beachtliche Leistung. Aus Sicht der Sozialpsychologie, die sich auch mit den Auswirkungen von Isolation und Deprivation befasst, fällt auf, dass Kaspar Hauser von Anfang an überhaupt nicht kontaktgestört war. Es darf zumindest als sehr ungewöhnlich betrachtet werden, dass jemand, der etwa zwölf Jahre allein in einem Verlies zugebracht hatte, sich, kurz nachdem er in die Freiheit entlassen wurde, an den ersten besten Passanten wandte und diesen nach dem Weg fragte. Andererseits gab es andere Eigenschaften, die Kaspar kaum hätte vortäuschen oder spielen können. So bemerkten schon seine ersten Aufpasser in Nürnberg, dass Kaspar ungewöhnlich gut in der Dunkelheit sehen konnte.

Vielleicht wird sich irgendwann, wenn die technischen Nachweismöglichkeiten sich weiter verfeinert haben werden, herausstellen, dass von allem ein bisschen richtig ist. Vielleicht war er kein Erbprinz, sondern einfach nur der illegitime Spross aus dem Seitensprung eines Fürsten mit seiner Küchenmagd. Man wollte ihn vielleicht nicht umbringen, aber er sollte auch nicht der Fürstin unter die Augen kommen. Vielleicht war er auch nicht jahrelang in einem dunklen Kerker eingesperrt worden, sondern hatte zumindest einen kleinen hellen Hof für Auslauf. Und vielleicht hatte auch jemand für regelmäßigen sprachlichen Input und etwas Unterricht gesorgt. Das nähme natürlich einiges von der Tragik dieser Existenz. Doch Kaspar Hauser als Metapher für die Bildungsfähigkeit trotz Verwahrlosung wird weiter bestehen bleiben.

Eigene Recherche
Quelle: Eigene Recherche


 

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