Mittelalterliches England war reicher als heutige Dritte-Welt-Länder

Die Engländer im Mittelalter erlebten ein langsames, aber stetiges Wirtschaftswachstum und hatten etwa doppelt so viel Geld zur Verfügung wie die heute ärmsten Staaten der Welt
Warwick (Großbritannien) - Zum Bild des finsteren Mittelalters gehört, dass die meisten Menschen über Jahrhunderte hinweg unverändert in Armut lebten. Doch für das britische Mittelalter haben Forscher jetzt andere Daten gewonnen: Zum einen gab es offenbar ein stetiges Wirtschaftswachstum, zum anderen war das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen im Mittelalter höher als gedacht und fast doppelt so hoch wie das der heute ärmsten Staaten der Welt.

"Unsere Forschung wirft ein neues Licht auf Englands ökonomische Vergangenheit und zeigt, dass die Pro-Kopf-Einkommen im mittelalterlichen England höher waren als ein Subsistenz-Niveau, wie es heute in vielen armen Ländern der Welt gegeben ist", erklärt Stephen Broadberry von der University of Warwick. "Die Mehrheit der britischen Bevölkerung im Mittelalter konnte sich einen respektablen Warenkorb leisten. Man konnte sich sogar gelegentlich Luxusgegenstände kaufen." Allerdings fügt der Forscher hinzu, dass die Studie sich auf das Durchschnittseinkommen konzentriert und die tatsächliche Verteilung des Einkommens zwischen Arm und Reich noch zu untersuchen sei. Sein Team arbeitet nun an Sozialtabellen einzelner wichtiger Jahre im Mittelalter, die auch die Einkommensverteilung wiedergeben.

Ein Jahreseinkommen von 400 US-Dollar pro Kopf gilt heute als das Maß für Subsistenz, also das Leben von der Hand in den Mund. Diese 400 Dollar werden von vielen Dritte-Welt-Ländern nur hauchdünn überschritten: In Togo liegt das Pro-Kopf-Einkommen bei 506 Dollar, in Niger bei 514 Dollar, in Guinea Bissau bei 617 Dollar. Für das mittelalterliche England hingegen haben die Forscher ein durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen von 1000 Dollar ermittelt. Selbst zu der Zeit, als in der Mitte des 14. Jahrhunderts die Pest in England wütete, hatten die Menschen noch jeweils ein Jahreseinkommen von etwa 800 Dollar zur Verfügung.

Die Haupterkenntnis allerdings lautet, dass das Einkommen der Briten zwischen 1270 und 1700 langsam, aber stetig um durchschnittlich 0,20 Prozent anwuchs, mit den größten Steigerungsraten während der Pestepidemie - die die Zahl der Menschen reduzierte - und in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Zwischen 1700 und 1870 lag das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens sogar bei 0,48 Prozent im Schnitt, so Broadberry und Kollegen. Diese Erkenntnis bringt die Forscher auch dazu, den Beginn der Industriellen Revolution neu zu sehen: "Die Industrielle Revolution kam nicht aus dem Nichts: Sie war vielmehr der Höhepunkt einer langen Periode wirtschaftlicher Entwicklung, die zurückreicht bis in die Zeit des Spätmittelalters."

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Quelle: "British Economic Growth, 1270-1870", Stephen Broadberry, Bruce Campbell, Alexander Klein, Mark Overton, Bas van Leeuwen; im Internet unter: http://www2.warwick.ac.uk/fac/soc/economics/staff/academic/broadberry/wp/britishgdplongrun8a.pdf


 

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