Evolutionsmotor Vogelhäuschen
"Unsere Studie belegt den tiefgreifenden Einfluss menschlicher Aktivitäten auf die evolutionäre Bahn von Arten", erläutert Martin Schäfer von der Universität Freiburg. "Sie zeigt, dass wir nicht nur das Schicksal seltener und bedrohter Arten beeinflussen, sondern auch jenes ganz gewöhnlicher, die uns tagtäglich umgeben." Die Biologen beobachteten die Aufspaltung bei einer Population zentraleuropäischer Mönchsgrasmücken (Sylvia atricapilla). Sie folgte auf eine Aufteilung der Vögel in Südwest- und Nordwest-wandernde, nachdem sie im Winter zunehmend von Menschen gefüttert wurden. Die zwei so entstandenen Gruppen folgen dabei eindeutigen Routen: Die nach Norden ziehenden überwintern in Großbritannien und nehmen gerne das vom Menschen angebotene Futter an. Die nach Süden fliegenden bleiben im Winter in Spanien und ernähren sich eher von Früchten wie zum Beispiel Oliven.
Obwohl sie etwa das halbe Jahr über zusammen leben, sind die beiden Gruppen sogar stärker voneinander isoliert als manch andere Gruppen von Mönchsgrasmücken, zwischen denen hunderte von Kilometern liegen. Unter dem unterschiedlichen Selektionsdruck sind bereits nach weniger als 30 Generationen eindeutig unterschiedliche Anpassungen entstanden: Für die nach Nordwesten reisenden ist die zurückzulegende Strecke kürzer. Sie besitzen rundlichere Flügel, die zwar eine bessere Manövrierfähigkeit bieten, aber weniger gut geeignet für Langstreckenflüge sind. Außerdem unterscheiden sie sich in Farbe von Gefieder und Schnäbeln und ihre Schnäbel sind länger und schmäler und weniger darauf ausgerichtet, größere Früchte wie Oliven zu fressen. Ob sich aus diesen beiden Ökotypen tatsächlich neue Arten entwickeln, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht klar abzusehen. "Das ist ein nettes Beispiel für die Geschwindigkeit der Evolution", sagt Schäfer. "Es ist etwas, das wir mit unseren eigenen Augen sehen können, wenn wir nur genau genug hinsehen."