Supersänger mit schlechtem Orientierungssinn
„Möglicherweise erfahren Weibchen, die einem Gesang lauschen, sowohl etwas über die kognitiven Stärken als auch über die kognitiven Schwächen des Männchens“, schreiben Kendra Sewall und ihre Kollegen von der Duke University in Durham. Die Forscher ermittelten zunächst sämtliche Gesangsvariationen von 16 männlichen Singammern (Melospiza melodia), indem sie mindestens 300 Gesänge jedes Vogels aufzeichneten. Dann testeten sie die Orientierungsleistung der einzelnen Männchen. Dazu mussten die Ammern lernen, unter sechs verschlossenen Behältern die räumliche Position desjenigen wiederzufinden, in dem Nahrung enthalten war. Die Vögel unterschieden sich stark darin, wie viele Fehler sie dabei machten, also in ihrer Lerngeschwindigkeit.
Je größer die Zahl der Liedvarianten, die ein Sänger beherrschte, desto höher war seine Fehlerquote beim Auffinden der Nahrung. Wenn die Weibchen den Sänger mit dem abwechslungsreichsten Gesang als Brutpartner bevorzugen, nehmen sie also Probleme bei der Orientierungsleistung des Männchens in Kauf. Das sei nur dadurch zu erklären, so die Biologen, dass diese kognitive Fähigkeit für das Überleben der Singammern von relativ geringer Bedeutung ist. Das könnte allerdings bei anderen Vogelarten völlig anders sein – beispielsweise bei Zugvögeln, die lange Flugstrecken zurücklegen müssen. Die Qualität des Gesangs lässt offenbar keine generellen Rückschlüsse auf sämtliche kognitiven Fähigkeiten des Sängers zu, sondern nur auf solche, die der biologischen Fitness der Art dienen.