Kolibri-Zungen: ein Saugrohr bei Bedarf
„Die Zunge von Kolibris lässt sich am besten als selbst anordnendes Kapillar-Saugrohr beschreiben“, schreibt das Team um den Ingenieur Wonjung Kim und den Mathematiker John W. M. Bush vom Massachusetts Institute of Technology. Gemeinsam mit Biologen der Harvard University wollten sie bestehende Theorien zum Trinkvorgang von Kolibris überprüfen. Ihre Videoaufnahmen zeigen im Detail die Zungen von Rubinkehlkolibris (Archilochus colubris), die durch ein nur 1,6 Millimeter großes Loch spezielles Zuckerwasser trinken. Dabei ist der Flüssigkeitsspiegel gerade so nah, dass die Vögel nicht den Schnabel eintauchen konnten, sondern die Zunge im Schnitt 13 Millimeter weit ausfahren mussten. Die lange, dünne Kolibri-Zunge hat seitlich zwei lange Furchen, die sich bei der Flüssigkeitsaufnahme zu – im Querschnitt – beinah geschlossenen Cs verformen. Dank der Oberflächenspannung von Wasser wirken Kapillareffekte auch bei Röhren mit schmaler seitlicher Öffnung.
Diese Formveränderung beginnt, sobald die Zunge die Flüssigkeit berührt. Allerdings können die Vögel dies aktiv nicht beeinflussen, hydrodynamische Kräfte sind dafür verantwortlich – ähnlich wie sich manche dünne Folie biegen, wenn sie Wasser berührt. Dass Kolibris ihren Nektar mithilfe von Kapillareffekten trinken, war erstmals im 19. Jahrhundert diskutiert worden. Doch zeigte sich auch, dass die Vögel dickflüssigen Nektar, der Kapillarwirkungen ausbremst, in die seitlichen Hohlräume aufnehmen und dann im Schnabel wieder auspressen können. Die C-förmigen Furchen bestehen aus Keratin-Membranen von rund 25 Millimetern Dicke, deren lamellenartige Seitenkanten sich einander annähern können. Gleichzeitig ist die Zunge selbst aber flexibel genug, um auch bei ungünstig geformten Blüten an den Nektar zu kommen, und weich genug, dass die Flüssigkeitstaschen in kürzester Zeit im Schnabel geleert werden.
Mit ihren Live-Aufnahmen untermauern Kim, Bush und Kollegen nun frühere Theoriemodelle der Nektaraufnahme. Je nach Zuckerkonzentration sagten diese korrekt vorher, wie schnell der Vogel seine Nahrung mithilfe von Kapillareffekten aufnehmen kann. Ihre eigene Saug-Simulation bestätigt, wie die elastische Verformung der Zunge wiederum den Nektarfluss beeinflusst. Optimal wäre ein Trinkerfolg demnach bei einer steifen Zunge mit einem Öffnungswinkel der C-Röhrchen von 150 Grad. Allerdings ist eine steife Zunge unpraktisch bei unterschiedlichsten Blütenformen und beim „Auspressen“, schließen die Forscher, so dass die Evolution eine leichte Flexibilität erlaubt hat – zu Ungunsten des theoretisch maximalen Saugerfolgs.