Bei zu viel Nähe schlägt der Mandelkern Alarm

Der Mandelkern - eigentlich Sitz der Emotionen im Gehirn - ist offenbar auch dafür zuständig, das menschliche Distanzverhalten zu anderen Menschen zu regeln
Patientin SM (rot) hatte jedes Gefühl für Distanzzonen verloren und stand am liebsten ganz dicht vor der Versuchsleiterin (schwarz). Gesunde Probanden (blau) hielten dagegen einen Abstand von über 60 zentimetern ein.
Patientin SM (rot) hatte jedes Gefühl für Distanzzonen verloren und stand am liebsten ganz dicht vor der Versuchsleiterin (schwarz). Gesunde Probanden (blau) hielten dagegen einen Abstand von über 60 zentimetern ein.
© Nature Neuroscience / Daniel Kennedy
Pasadena (USA) - Immer den richtigen räumlichen Abstand zum Mitmenschen zu wahren, gehört zu den wichtigsten sozialen Fähigkeiten. Bisher war jedoch unbekannt, wo das Gespür dafür, wie nahe man einem Anderen kommen darf, herkommt. Ein amerikanisches Forscherteam hat jetzt herausgefunden, dass es der Mandelkern (Amygdala) ist, der dieses Gefühl steuert. Dies konnten die Forscher durch die Untersuchung einer Patientin, der der Mandelkern entfernt wurde, feststellen. Der Mandelkern wurde bisher nicht mit dieser Funktion in Zusammenhang gebracht, wie die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift "Nature Neuroscience" darlegen.

"Jemandes persönliche Zone zu respektieren ist ein entscheidender Aspekt menschlicher Interaktion; wir tun dies normalerweise automatisch und ohne besondere Anstrengung", sagt Daniel P. Kennedy vom California Institute of Technology. "Unsere Ergebnisse legen die Vermutung nahe, dass die Amygdala eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielt. Offenbar ist sie notwendig für die Erzeugung jenes unangenehmen Gefühls, das Menschen dazu bringt, Abstand zueinander zu halten."

Es gibt nur etwa ein halbes Dutzend Menschen auf der Welt, denen beiderseits der Mandelkern entfernt wurde. Das Team um Ralph Adolphs und Daniel P. Kennedy vom California Institute of Technology konnte nun eine Frau - von den Wissenschaftlern "SM" genannt - mit dieser besonderen Gehirnläsion genauer untersuchen. Die Amygdala, die normalerweise in jeder der beiden Gehirnhälften vorhanden ist, verarbeitet nach bisherigen Erkenntnissen Furcht, Wachsamkeit und emotionale Belohnungen. Mit der Regelung von Distanzzonen ist diese Region jedoch bisher nie in Verbindung gebracht worden.

Die Forscher verglichen in Experimenten das Verhalten von SM mit dem Verhalten von 20 gesunden Probanden. Alle Testpersonen sollten sich der Versuchsleiterin bis zu dem Punkt nähern, der ihnen am angenehmsten erschien. Der Abstand, den SM am angenehmsten fand, betrug 34 Zentimeter. Die gesunden Probanden hielten jeweils bei 60 bis 70 Zentimetern an. Eine Distanz von weniger als einem halben Meter gehört normalerweise zur Intimzone und darf nur von Menschen eingenommen werden, die einem sehr nahe stehen. Dass SM den Abstand von nur 34 Zentimetern zu der ihr fast unbekannten Versuchsleiterin als angenehm empfand, zeigt, dass sie jegliches Gefühl für soziale Distanz verloren hatte.

Der Mandelkern ist aber offenbar auch aktiv, wenn ein Mensch nur weiß - aber nicht sieht -, dass ein Anderer ihm zu nahe kommt. Weitere gesunde Versuchsteilnehmer wurden in einem Magnetresonz-Tomografen jeweils beobachtet, wie sie das Wissen von der Nähe oder der Entfernung eines anderen Menschen im Gehirn verarbeiteten. Da sie im Magnetresonanz-Tomografen nicht sehen konnten, wer im Raum war, sagte die Versuchsleiterin immer, wer dicht oder nicht so dicht an den jeweiligen Probanden herankam. "Allein der Gedanke, dass eine andere Person dicht an das Gerät herankam, in dem eine Versuchsperson lag, löste eine Aktivität in der Amygdala aus", sagt Kennedy.

Von den Ergebnissen der Wissenschaftler könnte unter anderem die Autismus-Forschung profitieren. Autisten haben oft Schwierigkeiten mit der persönlichen Zone anderer Menschen. "Ihnen muss beigebracht werden, was die persönliche Zone ist und warum es wichtig ist, dass sie eingehalten wird."

© Wissenschaft aktuell
Quelle: "Personal space regulation by the human amygdala", Daniel P Kennedy, Jan Gläscher, J Michael Tyszka & Ralph Adolphs, Nature Neuroscience, 30.08.09


 

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