Im O-Ton

Was sagen uns 4000 Jahre alte Keilschrifttafeln heute?

Professor Dr. Markus Hilgert
Professor Dr. Markus Hilgert
© Markus Hilgert
Ein Interview mit Professor Dr. Markus Hilgert, Assyriologe an der Universität Heidelberg

Wissenschaft aktuell: Was hat man eigentlich davon, wenn man weiß, wie vor 4000 Jahren eine Stadt verwaltet wurde?

Hilgert: Die altorientalischen Metropolen hatten Herausforderungen zu bewältigen, mit denen Gesellschaften bis zum heutigen Tag konfrontiert sind. Dazu zählen etwa die soziale Integration ethnischer Minderheiten, Natur- und Umweltkatastrophen sowie das Ressourcenmanagement. Viele Städte des Zweistromlands sind offenbar sehr erfolgreich mit diesen Herausforderungen umgegangen, denn sie waren über mehrere Jahrtausende hinweg äußerst einflussreiche Macht- und Kulturzentren – denken Sie etwa an Uruk, Babylon oder Assur. In unserem eigenen Interesse sollten wir heraus finden, was sie so beispiellos erfolgreich machte.

Die urbanen Zentren des antiken Mesopotamien gehören zu den ältesten Großsiedlungen der Menschheitsgeschichte, deren Sozialstruktur, historische Entwicklung und Organisation wir vielfach sehr detailliert erforschen und rekonstruieren können. Dabei stützen wir uns nicht nur auf sehr komplexe und materialreiche archäologische Befunde, sondern auch auf ein schier unübersehbares Korpus von zeitgenössischen Keilschrifttexten, die über alle zentralen Bereiche menschlichen Kulturschaffens Auskunft geben, von Landwirtschaft und Handwerk über Rechtsprechung und Religion bis hin zur Ausbildung der Gelehrten. Wer grundsätzlich an Geschichte interessiert ist, wird sich der Faszination eines solchen historischen ‚Tiefenblicks’ wohl kaum entziehen können – zumindest kann ich mir das nicht vorstellen.


Wissenschaft aktuell: Was sind Ihre wichtigsten Arbeitsmittel?

Hilgert: Zeichenlisten, Wörterbücher, Grammatiken und nicht zuletzt der Computer, der mir und meinen Kollegen dabei hilft, Informationen aus Hunderttausenden von Keilschrifttafeln zu strukturieren und effizient auszuwerten. Doch auch der leistungsfähigste Computer vermag es nicht, die Augen und den kritischen Sachverstand des Wissenschaftlers zu ersetzen, dem die philologische Erschließung und Interpretation der Textquellen anvertraut sind. So betrachtet sind also Augen und Verstand die „wichtigsten Arbeitsmittel“. Und natürlich schadet es nie, über den ‚Tellerrand’ des eigenen Faches hinaus zu schauen und die Inhalte und Methoden anderer kultur- oder sozialwissenschaftlicher Disziplinen kennen zu lernen. Mir jedenfalls verschafft das oft einen ‚Kreativitätsschub’.


Wissenschaft aktuell: Sie können den Inhalt einer Keilschrifttafel in Sumerisch oder Akkadisch beim bloßen Draufsehen grob erfassen. Wie lange braucht man, um zu dieser Kompetenz zu gelangen?

Hilgert: Ich habe vor beinahe 20 Jahren damit begonnen, mich mit Keilschrift und den Sprachen des Alten Orients zu beschäftigen. Und doch vergeht kein Tag, an dem ich durch den Umgang mit Keilschrifttafeln nicht irgendetwas Neues lerne. Insofern habe ich für das, was ich heute über diese faszinierenden Kulturzeugnisse weiß, buchstäblich ein halbes Leben gebraucht. Im Allgemeinen jedoch benötigt man für eine solide Grundkompetenz in keilschriftlicher Philologie etwa 5 bis 10 Jahre intensiven Studiums. Nach allem, was wir wissen, galt dies bereits für altorientalische Schriftgelehrte.


Wissenschaft aktuell: Wofür brauchen Sie Geld?

Hilgert: Vor allem für die Erhaltung und wissenschaftliche Erschließung der altorientalischen Kulturzeugnisse. Dazu muss man wissen, dass ein ganz beträchtlicher Teil der Keilschrifttexte, die heute in Museen aufbewahrt werden, nach wie vor nur unzureichend oder gar nicht ediert sind. Fast täglich kommen durch archäologische Entdeckungen neue Schriftquellen hinzu, die ihrer Entzifferung harren. Die philologische Grundlagenforschung in unserem Fach ist jedoch so arbeits- und zeitintensiv, dass selbst die Edition eines vergleichsweise kleinen Textkorpus ein mittelfristiges Forschungsvorhaben mit einem Finanzbedarf von einigen Hunderttausend Euro darstellt. Verglichen mit manchem Projektbudget in den Naturwissenschaften sind das allerdings eher 'peanuts’... Unabhängig davon bin ich überzeugt, dass wir in Zukunft unsere Bemühungen um Gelder privater Sponsoren intensivieren müssen, damit wir das immense kulturelle Erbe des Zweistromlandes bewahren und für uns fruchtbar machen können.


Wissenschaft aktuell: Hat Ihr Fach Nachwuchsprobleme?

Hilgert: Ja, sogar große. Schon allein für die angemessene wissenschaftliche Aufarbeitung der reichen Keilschriftfunde benötigen wir sehr viel mehr gut ausgebildete altorientalische Philologen, als derzeit weltweit zur Verfügung stehen. Inzwischen scheitern sogar finanziell gesicherte Forschungsvorhaben am ‚Assyriologen-Mangel’. Weitaus mehr beunruhigt mich aber die Tatsache, dass es immer schwieriger zu werden scheint, hoch motivierte, leistungsfähige Studierende zu gewinnen, die die wünschenswerten geisteswissenschaftlichen Voraussetzungen für ein Studium der Altorientalistik besitzen. Ich denke etwa an Kenntnisse in Latein und Griechisch, an grammatisches Grundwissen und nicht zuletzt an die Fähigkeit, längere Texte zu erfassen und zu analysieren. Dabei macht die vielfach sehr unglücklich geführte öffentliche Debatte über die Zukunft sogenannter ‚kleiner’ Fächer oder den Sinn der Geisteswissenschaften insgesamt das Studium der Altorientalistik nicht gerade attraktiver. Allerdings liegt es auch an uns, Faszination und Bedeutung des Alten Orients stärker als bisher im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern.


Das Interview führte unsere Redakteurin Doris Marszk.



 

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