Warum viele Haustiere Schlappohren haben
„Die Domestizierung von Tieren war ein entscheidender Schritt bei der Entstehung von Zivilisationen. Ohne Haustiere hätten sich menschliche Gesellschaften kaum so erfolgreich entwickelt, wie sie es getan haben“, sagt Adam Wilkins von der Humboldt-Universität zu Berlin. Zusammen mit Kollegen von der Universität Wien und der Harvard University präsentiert er eine Hypothese, die eine seit Langem bekannte Tatsache erklären soll. Zahlreiche Haustiere wie Schweine, Rinder, Hunde, Katzen und Kaninchen zeigen eine Kombination gemeinsamer Merkmale in Verhalten, Körperfunktionen und Form von Körperteilen, in denen sie sich von der jeweiligen Wildform unterscheiden. Durch menschliche Auslese über viele Generationen hinweg entstanden zahme Tiere mit erwünschten, nützlichen Eigenschaften. Aber gleichzeitig und vom Menschen nicht beabsichtigt entwickelten die Tiere auch eine veränderte Fellfarbe, kleinere Zähne, eine kürzere Schnauze, kleinere und schlaffe Ohren, eine geringere Hirnmasse und eine längere Lebensphase kindlichen Verhaltens. Eine Vermutung Darwins, wonach ein dauerhaft geschütztes Leben in Gefangenschaft bei gesichertem Nahrungsangebot solche Veränderungen hervorgerufen haben könnte, gilt inzwischen als widerlegt. Experimentelle Haustierzüchtungen, ausgehend von wilden Füchsen, Ratten und Nerzen, führten ebenfalls zu Tieren mit Domestikationssyndrom. Verwilderte Haustiere behielten solche Merkmale auch nach vielen Generationen noch bei.
Der neue Erklärungsversuch von Wilkins und seinen Kollegen stützt sich auf die Funktion bestimmter Stammzellen. Bei allen Wirbeltieren entsteht in einer frühen Phase der Embryonalentwicklung über der Anlage des späteren Rückenmarks eine sogenannte Neuralleiste, die aus einer Schicht von Stammzellen besteht. Die Zellen dieser Neuralleiste wandern mit der Zeit in ganz verschiedene Körperteile des Embryos. Einige sind an der Bildung von Kiefer und Zähnen beteiligt, aus anderen entwickelt sich der Knorpel der Ohren, wieder andere verwandeln sich in pigmentbildende Hautzellen oder beeinflussen das Hirnwachstum. Die Neuralleistenzellen sind aber auch Vorläufer der Nebennieren, deren Hormone Aggressionsverhalten und Stressreaktionen steuern. Wenn also eine Züchtung einzig und allein auf die Zahmheit abzielt, könnte das die Auslese von Mutationen bewirken, die zu leicht geschädigten Neuralleistenzellen führen. Das Ergebnis wären Tiere, die weniger Stresshormone bilden und sich wegen der verminderten Funktion ihrer Nebennieren weniger aggressiv verhalten. Dieselben mutierten Stammzellen lösen in anderen Körperregionen die bekannten Merkmale des Domestikationssyndroms aus. So kommt es zu Schlappohren, weißen Flecken im Fell und einer verkürzten Schnauze. Bei Haustieren und experimentell domestizierten Füchsen wurde eine Unterfunktion der Nebennieren und ein verringerter Spiegel an Stresshormonen im Blut festgestellt.
Die vorgelegte Hypothese ließe sich durch vergleichende genetische Analysen von Haustieren und ihren Wildformen prüfen, schreiben die Autoren. So müsste man im Erbgut des Haustiers Mutationen vorfinden, die die Wanderung oder andere Funktionen der Neuralleistenzellen beeinträchtigen. Solche Mutationen würden fast das gesamte Spektrum des Domestikationssyndroms erklären. Eine Ausnahme gibt es allerdings: Rätselhaft bleibt die Entstehung von Ringelschwänzen, die nicht bei allen Haustieren – nur bei Schweinen, Hunden und domestizierten Füchsen – auftreten, und nichts mit mutierten Stammzellen zu tun haben.