Tägliches Labyrinth vor der Haustür

Manche Menschen leiden - ohne Gehirnverletzungen und ohne dement zu sein - an der Unfähigkeit, sich selbst an vertrautesten Orten zurechtzufinden
Für Manchen ist sogar die alltägliche Orientierung im Raum eine Herausforderung wie ein Labyrinth - hier jenes von Schönbrunn
Für Manchen ist sogar die alltägliche Orientierung im Raum eine Herausforderung wie ein Labyrinth - hier jenes von Schönbrunn
© Wikimedia Commons/Andrea Schaufler
Vancouver (Kanada) - Es gibt Menschen, die stoßen täglich vor ihrer Haustür auf ein verwirrendes Labyrinth. Ohne sonstige Behinderungen und ohne Anzeichen von Demenz sind sie ständig in Gefahr, sich selbst in den Straßen ihres Viertels zu verlaufen. Jetzt hat ein kanadisches Forscherteam erstmals ausführlich in der Fachzeitschrift "Neuropsychologia" einen Patienten mit dieser Störung beschrieben. Die Wissenschaftler vermuten, dass dies kein Einzelfall ist, sondern dass es möglicherweise eine Dunkelziffer von Menschen gibt, die ihr Problem bisher niemandem anvertraut haben. Für Betroffene haben die Forscher die Internetseite "www.gettinglost.ca" eingerichtet, die auch Informationen auf Deutsch anbietet.

"Stellen Sie sich vor, dass Sie nicht in der Lage sind, die einfachsten Aufgaben zu bewältigen, etwa, vom Gemüsehändler zurück nach Hause zu finden", sagt Giuseppe Iaria von der University of British Columbia. "Sich in einer Umgebung zurechtzufinden und einen Weg zu wählen, sind komplexe kognitive Aufgaben, in die Teile des Gehirns, die für Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Entscheidungsprozesse zuständig sind, involviert sind."

Darüber hinaus, so der Forscher, seien mindestens zwei verschiedene Gedächtnissysteme erforderlich: Das prozedurale Gedächtnis und das räumliche Gedächtnis. Das prozedurale Gedächtnis sorgt dafür, dass man nicht ständig neu überlegen muss, wie man eine Schleife bindet oder in einem Auto die Zündung einschaltet. Bei der geografischen Orientierung sorgt das prozedurale Gedächtnis für die Nutzung herausstechender Markierungen wie etwa auffallender Ladenschilder oder Häuser in ungewöhnlicher Bauweise. Das räumliche Gedächtnis ist komplexer. Wer sich in einer Umgebung - fremd oder vertraut - bewegt, erstellt eine mentale Repräsentation dieser Umgebung, die auch "kognitive Karte" genannt wird. Diese kognitive Karte ermöglicht es einem Individuum, einer Route zu folgen, ohne sich zu verirren.

Bei Gehirnverletzungen oder -deformationen kann es vorkommen, dass diese Navigationsfähigkeiten beeinträchtigt sind. Doch bei dem untersuchten Patienten liegt nichts dergleichen vor. "Wir gehen davon aus, dass dieser Patient nicht der Einzige ist, der derartige Schwierigkeiten hat", sagt Jason Barton, Mitautor der Studie. "Vermutlich gibt es viele andere Menschen, die in unterschiedlichem Grade unter dieser Entwicklungsbedingten Topografischen Desorientierung leiden. Sie haben vielleicht ihr Leben lang immer wieder Situationen erlebt - zu Hause, in der Nachbarschaft, auf dem Schulweg oder bei der Arbeit -, in denen sie sich auf andere verlassen mussten, um sich nicht zu verlaufen. In extremen Fällen könnte dies sogar zu sozialer Isolation führen."

University of British Columbia
Quelle: "Developmental topographical disorientation: Case one", Giuseppe Iaria, Nicholas Bogod, Christopher J. Fox, Jason J.S. Barton; Neuropsychologia, 2008, im Druck
http://www.gettinglost.ca/


 

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