Stau in Städten: Schon wenige Umwege beschleunigen den Verkehr

Neues Mobilitätsmodell auf der Basis von Handydaten weist Alternativen zum Straßenausbau und Mautsystemen auf
Verkehrsaufkommen während der morgendlichen Stoßzeit in Boston, ermittelt über Bewegungsprofile von Mobiltelefonen.
Verkehrsaufkommen während der morgendlichen Stoßzeit in Boston, ermittelt über Bewegungsprofile von Mobiltelefonen.
© Çolak et al, MIT
Cambridge (USA) - In der deutschen Stauhauptstadt Köln stehen Autofahrer pro Jahr durchschnittlich 65 Stunden im Stau, in Hamburg und München ist die Lage mit knapp 50 Staustunden nicht viel besser. Dieses wachsende Problem muss nicht unbedingt mit einem Straßenausbau oder gar Maut-Gebühren wie in London bekämpft werden. Amerikanische Verkehrsforscher schlagen nun eine vielfältigere Routenplanung vor, dank der die Stauzeiten um etwa ein Drittel reduziert werden könnten. Wie sie in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ berichten, müssten nur wenige Fahrer einen Umweg in Kauf nehmen, damit eine deutliche Mehrheit schneller ans Ziel kommt. Grundlage dieser Erkenntnis ist ein komplexes Verkehrsflussmodell, das auf echten Bewegungsprofilen von zahlreichen Autofahrern während der morgendlichen Stoßzeit in fünf Städten basiert.

„Die Stauzeiten können signifikant verkürzt werden, wenn nur wenige einen Umweg machen, also eine Art „soziale“ Route einschlagen“, sagt Marta González vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge. Für ihr Modell griffen Gonzàlez und Kollegen nicht mehr auf Daten aus aufwendigen und teuren Verkehrszählungen zurück. Stattdessen nutzten sie mehrere Millionen anonymisierte Bewegungsprofile, erstellt über die Mobiltelefone von Autofahrern in fünf Städten: Rio de Janeiro, San Francisco, Porto, Lissabon und Boston. Sowohl die Struktur der Straßennetze als auch die Anzahl der Pendler in den Morgenstunden unterschieden sich in diesen Städten wesentlich. Dennoch ließ sich ein einheitliches Muster bei der Staubildung erkennen. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich die Erkenntnisse auch auf andere urbane Ballungsräume weltweit übertragen lassen könnten.

Die Datenanalyse zeigte, dass der Großteil der Pendler nur kurze Strecken bis zu zehn Kilometern auf dem Weg zum Arbeitsplatz im Auto zurücklegte. Lag die mittlere Geschwindigkeit ohne Stau überall bei etwa 50 Kilometern pro Stunde, reduzierte sie sich in der morgendlichen Rush-Hour auf Werte zwischen 30 und 40. In ihrem Modell koppelten die Forscher das gemessene Verkehrsaufkommen und die gefahrenen Routen mit der jeweils zu erwartenden Fahrtzeit. Ergänzt mit mathematischen Algorithmen entstand ein Verkehrsflussmodell, mit dem sich bei gleichem Verkehrsaufkommen die Fahrtzeiten mit einer intelligenteren Routenplanung ermitteln ließen. In ihrer Simulation schickten die Forscher mal mehr, mal weniger Pendler auf kurze Ausweichrouten. Das Ergebnis für den gesamten Verkehrsfluss war beeindruckend: So bräuchten zum Beispiel nur ein Fünftel der Pendler etwas von der optimale Route abweichen, um alle anderen schneller an ihr Ziel kommen zu lassen. Mit diesem sozial genannten Verhalten der Autofahrer ließen sich im besten Szenario die Stauzeiten für alle Pendler um bis zu 30 Prozent senken.

Trotz dieser eindrucksvollen Optimierung ist sich González bewusst, dass eine Umsetzung derzeit wenig realistisch ist. Denn jeder Autofahrer will selbst möglichst schnell ans Ziel kommen und hat nicht den Nutzen eines Umwegs für die Allgemeinheit im Blick. „Nur mit einem Belohnungssystem für kurze Umwege könnte sich dieses Modell umsetzen lassen“, sagt die Verkehrsforscherin. Ihr schweben Gutscheine für Cafés oder Tankstellen vor, die Umweg-Fahrer über eine Smartphone-App erhalten könnten. Dafür müsste ein Routenplaner programmiert werden, der jeden Autofahrer individuell abhängig von der Verkehrslage auf einen kurzen, dafür aber belohnten Umweg schicken könnte. Sollten in Zukunft autonome Fahrzeuge, die derzeit viel Aufmerksamkeit erregen, den Straßenverkehr dominieren, könnte sich auch eine soziale Routenplanung durchsetzen. „Das ist definitiv eine vielversprechende Idee“, sagt González. Denn dann wäre der Fahrer mit etwas anderem beschäftigt und würde sich nicht mehr selbst um den eingeschlagenden Weg kümmern.

Insgesamt gründet diese Studie darauf, dass das Fahren im eigenen Auto auch in Zukunft den urbanen Verkehr prägen wird. Die Vorteile eines stark ausgebauten öffentlichen Nahverkehrs, mit dem Pendler ganz auf ihr eigenes Fahrzeug verzichten können, werden nicht thematisiert. Doch liegt es - gestützt von zahlreichen Mobilitätsstudien - auf der Hand, dass ein engmaschiges Netz von Bussen und Bahnen mit kürzeren Taktzeiten als heute die beste Lösung für das Stauproblem in Städten bietet.

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