Neues Therapieziel für Alkoholkranke: Totale Abstinenz nicht zwingend nötig

Veränderte Behandlungsstrategie soll den Alkoholkonsum lediglich verringern und so die Gesundheit verbessern
Vollständige Abstinenz bleibt die beste Therapie für Alkoholiker.
Vollständige Abstinenz bleibt die beste Therapie für Alkoholiker.
© Heike Tillmann / Creative Commons, http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/deed.en
Mannheim - Keinen Tropfen Alkohol mehr – das ist das Ziel der bisherigen Therapie von Alkoholabhängigen. Die Erfolgsquote ist allerdings gering. Die meisten werden wieder rückfällig. Eine neue Strategie soll den Betroffenen nun helfen, ein leichter erreichbares Ziel anzusteuern. Der suchtdämpfende Wirkstoff Nalmefen ermöglicht es, zumindest weniger zu trinken und so Gesundheitsschäden zu verringern, berichten europäische Mediziner im Fachblatt „Biological Psychiatry“. In ihrer Studie senkte das Medikament im Vergleich zu einem Placebo den Gesamtalkoholkonsum und verbesserte die Leberwerte. Ursprünglich wurde Nalmefen bei Opiat-Überdosierungen eingesetzt, hatte sich daneben aber auch zur Behandlung der Alkoholsucht als wirksam erwiesen.

„Ein verringerter Alkoholkonsum könnte eine nützliche Alternative sein für die vielen Patienten, die es nicht schaffen, abstinent zu werden“, sagt Karl Mann vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, der Leiter des Forscherteams. An der bisher größten Studie dieser Art nahmen Alkoholabhängige aus Österreich, Finnland, Schweden und Deutschland teil. Die meisten der zu Beginn 604 Patienten waren Männer mittleren Alters. Eine hohe Abbruchrate ließ die Zahl der Probanden nach sechs Monaten auf 338 sinken. Die Hälfte der Teilnehmer erhielt Nalmefen-Tabletten. Ähnlich wie das ältere Medikament Naltrexon wirkt Nalmefen als sogenannter Opioid-Antagonist. Es blockiert Rezeptoren von Hirnzellen, die bei Anregung durch Alkoholkonsum ein starkes Verlangen nach weiterer Alkoholzufuhr erzeugen. Die Patienten sollten das Medikament nach eigener Entscheidung nur an den Tagen einnehmen, an denen sie glaubten, mit hoher Wahrscheinlichkeit Alkohol trinken zu müssen. Der anderen Gruppe wurden gleich aussehende Placebos ohne Wirkstoff überreicht. Weder Patienten noch Forscher wussten zunächst, wer ein Placebo und wer das Medikament benutzte.

Schon nach vier Wochen stellte sich heraus, dass die selbstbestimmte Einnahme von Nalmefen im Vergleich zum Placebo den Gesamtalkoholkonsum stärker verringerte. Dieser Unterschied blieb bis zum Abschluss der Studie bestehen. Mit dem Medikament sank die Alkoholzufuhr um etwa 60 Prozent, mit dem Placebo waren es nur 47 Prozent. Die Abschlussuntersuchung nach sechs Monaten ergab zudem für die Nalmefen-Gruppe sowohl einen besseren Gesundheitszustand im Allgemeinen als auch eine bessere Leberfunktion im Besonderen. Die Einnahme des Medikaments war nur mit geringen bis mäßig starken Nebenwirkungen verbunden, führte aber zu einer höheren Abbruchrate in der Studie. Das Placebo wurde im Schnitt an zwei von drei Tagen, der echte Wirkstoff an fast jedem zweiten Tag eingenommen.

Mit einer solchen Behandlungsstrategie „könnte ein neues Kapitel in der Therapie des Alkoholismus eröffnet werden“, sagt Mann. In der Europäischen Union seien etwa 15 Millionen Menschen betroffenen; nicht einmal jeder zehnte davon würde behandelt. Innerhalb eines Jahres nach einem Entzug werden mehr als Zweidrittel der Patienten wieder rückfällig. Nach Ansicht der Autoren wäre es für die Betroffenen insgesamt von größerem Nutzen, wenn jeder selbst zwischen zwei Möglichkeiten des Therapieziels entscheiden könnte: totale Abstinenz oder nur verringerter Alkoholkonsum. Die eigene Entscheidung zu einer Selbstmedikation mit Nalmefen würde es auch denen erleichtern, eine Therapie zu beginnen, die sonst völlig unbehandelt blieben.

© Wissenschaft aktuell


 

Home | Über uns | Kontakt | AGB | Impressum | Datenschutzerklärung
© Wissenschaft aktuell & Scientec Internet Applications + Media GmbH, Hamburg