Neandertaler eher unser Bruder als unser Cousin
"Im Grunde rehabilitiere ich die Neandertaler", sagt Julien Riel-Salvatore von der University of Colorado Denver. "Sie hatten sehr viel mehr geistige Ressourcen, als wir ihnen bisher zugestehen wollten." Riel-Salvatore hat sieben Jahre lang Neandertalstätten in ganz Italien erforscht. Vor 42.000 Jahren entstand in Norditalien die Kultur des Aurignacien, deren Auftreten in der anthropologischen Forschung ganz eng mit dem modernen Menschen assoziiert wird. Mittelitalien blieb dagegen weiterhin in der - älteren - Moustérien-Kultur. Hier lebten zu jener Zeit Neandertaler. Parallel dazu entwickelte sich im Süden Italiens eine neue Kultur, ebenfalls von Neandertalern: die Uluzzi-Kultur. Diese unterschied sich, wie Riel-Salvatore erkannte, sehr von der anderen Neandertaler-Kultur. Denn im Süden Italiens hatte sich vor rund 40.000 Jahren ein Klimawandel vollzogen, durch den die Region zunehmend trockener und wärmer wurde. Dies wirkte sich auch auf die Tierwelt aus. Statt großer Säugetiere gab es nun eher kleine Tiere. Die Neandertaler mussten sich an diese veränderten Bedingungen anpassen, denn sie waren vorher gewohnt, große Säugetiere zu jagen. Nun stellten sie Pfeile und Bogen her – wendiges Jagdwerkzeug –, um das Kleinwild zu erlegen.
"Meine Schlussfolgerung ist, dass im Falle, wenn die Uluzzi-Kultur eine Neandertaler-Kultur war, Kontakte mit modernen Menschen gar nicht erforderlich waren, um den Ursprung dieses neuen Verhaltens zu erklären", erklärt Riel-Salvatore. "Wenn wir zeigen, dass Neandertaler aus sich heraus etwas Neues entwickeln konnten, wirft dies ein ganz neues Licht auf sie. Wir und sie sind eher Brüder als entfernte Cousins."