Mitfühlendes Gähnen
"Durch Beobachtungen von Menschen in ihrem natürlichen Umfeld haben wir erstmals gezeigt, dass ansteckendes Gähnen von der empathischen Bindung zwischen zwei Menschen abhängt", erklären Ivan Norscia und Elisabetta Palagi von der Universität in Pisa. Sie beobachteten, ob Männer und Frauen aus Europa, Nordamerika, Asien und Afrika in verschiedenen Situationen - während der Arbeit, beim Essen, in der Freizeit - durch das Gähnen einer anwesenden Person angesteckt wurden. Die Forscher registrierten, ob und wie häufig die Testpersonen gähnten und wie viel Zeit verstrich, bis diese Reaktion einsetzte. Als mögliche Einflussfaktoren berücksichtigten die Wissenschaftler Geschlecht und Nationalität und auch ob Sichtkontakt bestand oder das Gähnen des anderen nur gehört wurde.
Die Auswertung von 149 Fällen von ansteckendem Gähnen lieferte ein eindeutiges Ergebnis: Die Wirkung war in jeder Hinsicht umso stärker, je enger die soziale Bindung zwischen den Testpersonen war. Sämtliche anderen Faktoren und Testbedingungen spielten keine Rolle. Damit bestätigten die Forscher den durch andere Untersuchungen vermuteten Zusammenhang zwischen ansteckendem Gähnen und Empathie. So war bereits bekannt, dass das Gähnen einer anderen Person dieselben Hirnregionen aktiviert wie empathisches Empfinden. Das ansteckende Gähnen lässt sich auch bei Menschenaffen beobachten. Hier dient es wahrscheinlich dazu, Aktivitäten innerhalb eines Gruppenverbandes zu synchronisieren. Die Evolution von Empathie und ansteckendem Gähnen begann also schon bei gemeinsamen Vorfahren von Affen und Menschen, so die Autoren. Die Entwicklung mitfühlenden Empfindens gegenüber Verwandten und Freunden war eine der Voraussetzungen für die Evolution des Menschen als sozialem Wesen.