Magersucht und Fressattacken: Sind Bakterien schuld an Essstörungen?
„Zurzeit arbeiten wir daran, einen Bluttest zu entwickeln, der das bakterielle Protein ClpB nachweist. Dann wären spezifische und individualisierte Behandlungen von Essstörungen möglich”, erklären Pierre Déchelotte und Sergueï Fetissov von der Universität Rouen. Das Protein ClpB dient einigen Darmbakterien als Schutz vor Schäden durch Hitze und andere Arten von Stress. Ein Teil des Moleküls hat große Ähnlichkeit mit dem menschlichen Melanotropin-Hormon alpha-MSH, das in der Hirnregion des Hypothalamus appetitmindernd wirkt und Emotionen beeinflusst.
Mäuse, die mit dem Protein ClpB geimpft oder denen ClpB-bildende E. coli-Bakterien in den Darm verabreicht wurden, produzierten Antikörper gegen dieses Protein und veränderten Körpergewicht und ängstliches Verhalten. Dagegen hatten E. coli-Mutanten, die das Protein nicht mehr bilden konnten, diese Wirkungen nicht. Die Forscher erklären ihre Ergebnisse damit, dass die produzierten Antikörper sich auch an das Sättigungshormon alpha-MSH anlagern und dadurch dessen Wirksamkeit beeinflussen. Wird sie verstärkt, könnten Appetitlosigkeit und Magersucht die Folge sein; wird sie geschwächt, würden Heißhunger und Essattacken ausgelöst.
Blutanalysen von 60 Patienten mit Essstörungen zeigten erhöhte Werte von Antikörpern, die sowohl gegen ClpB als auch gegen das Melanotropin gerichtet waren. Dabei ergab sich ein Zusammenhang zwischen dem Schweregrad der Krankheit und der Höhe des Antikörperspiegels. Die Forscher hoffen, durch weitere Arbeiten die Diagnose von gestörtem Essverhalten verbessern und neue Therapieansätze entwickeln zu können. So wollen sie durch eine spezielle Immuntherapie versuchen, das ClpB-Protein der Darmbakterien zu neutralisieren, um die natürliche Regulation der Nahrungsaufnahme wiederherzustellen.
Am Beginn der Entwicklung von Essstörungen steht möglicherweise eine Umstellung von Ernährungsgewohnheiten bei Jugendlichen, wodurch sich die Darmflora verändert. An den drei Hauptformen von Essstörungen – Anorexia nervosa (Magersucht), Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht) und Binge-Eating-Störung – leiden nach Angaben der Autoren etwa fünf Prozent aller Frauen und zwei Prozent der Männer. Berücksichtigt man auch andere Ausprägungen eines gestörten Essverhaltens, ist noch ein deutlich höherer Anteil der Bevölkerung davon betroffen. Da auch psychosoziale Faktoren wie eine gestörte Körperwahrnehmung bei den Betroffenen eine große Rolle spielen, werden für die Behandlung heute hauptsächlich unterschiedliche Formen der Psychotherapie eingesetzt. Eine gezielte medikamentöse Behandlung der Krankheitsursache gibt es zurzeit nicht.