Krebstherapie mit Viren: Per Anhalter zum Tumor
„Reoviren scheinen noch schlauer zu sein, als wir dachten. Huckepack auf Blutzellen gelingt es den Viren, sich vor der natürlichen Immunabwehr zu verstecken und unversehrt ihr Ziel zu erreichen“, sagt Alan Melcher von der University of Leeds, der zusammen mit Kevin Harrington vom Institute of Cancer Research in London das Forscherteam leitete. Versuche mit Mäusen hatten zunächst ergeben, dass intravenös verabreichte Reoviren durch Antikörper im Blut inaktiviert werden und deshalb nicht in ausreichender Zahl in den Tumor gelangen. Daher schien eine effektive Behandlung nur möglich, wenn die Viren direkt in die Tumoren injiziert werden. Diese Form der Therapie wäre jedoch technisch schwieriger als eine Infusion und nur bei leicht zugänglichen Tumoren möglich. Überraschenderweise lieferten die Versuche am Menschen nun ganz andere Resultate.
Für ihre Studie wählten die Forscher zehn Darmkrebspatienten, deren Lebermetastasen später operativ entfernt werden sollten. Bei allen Probanden waren Antikörper gegen Reoviren nachweisbar. Solche Antikörper gegen die verbreiteten Viren produziert das Immunsystem der meisten Menschen schon in der Kindheit als Antwort auf natürliche Infektionen. Zu verschiedenen Zeiten nach einer Infusion der Reoviren analysierten die Wissenschaftler Blutproben der Patienten. Diese zeigten, dass die Viren, die frei im Plasma vorlagen, schnell durch Antikörper inaktiviert wurden. Dagegen fanden die Forscher in dem Bestandteil des Blutes, der aus weißen Blutkörperchen und Blutplättchen bestand, aktive Viren, die weiterhin Krebszellen infizieren und abtöten konnten. Ob sich diese Viren an der Außenhülle der Blutzellen angeheftet hatten oder in das Zellinnere eingedrungen waren, ist noch nicht bekannt. In später entnommenen Blutproben waren keine Viren mehr enthalten.
Einige Wochen nach der Virusbehandlung wurden Tumoren aus der Leber entfernt. Darin fanden sich aktive Viren und zerstörte Krebszellen. In gesundem Lebergewebe hatten sich die Viren nicht vermehrt. Dieses Ergebnis bestätigt, dass die sogenannten onkolytischen Viren wirklich nur Krebszellen befallen können, während gesunde Zellen die Infektion erfolgreich abwehren. Im Einklang damit verursachte die Virustherapie keinerlei erkennbare Nebenwirkungen, was für die Sicherheit der Behandlungsmethode spricht. Die Studie habe gezeigt, dass intravenös verabreichte Reoviren auch in Gegenwart von Antikörpern Tumoren erreichen und sich darin vermehren können, schreiben die Forscher.
Den konkreten therapeutischen Nutzen des Vireneinsatzes als Bestandteil einer Krebstherapie – gemessen am Tumorwachstum und an der Überlebensdauer der Patienten – müssen nun neue klinische Studien ermitteln. Neben der direkten Zerstörung von Krebszellen haben onkolytische Viren einen zusätzlichen positiven Effekt: Indem sie Bruchstücke von Tumorzellen erzeugen und Entzündungsreaktionen im Tumor auslösen, regen sie das Immunsystem dazu an, eigene Abwehrmaßnahmen gegen die Krebszellen zu ergreifen. Diese zweifache und lang anhaltende Wirkung könnte den Erfolg einer Standardtherapie deutlich steigern.