Konfliktvermeidung: Sich kratzen gegen Aggressionen
„Einem anderen zu zeigen, dass man gestresst ist, kann für beide Parteien nützlich sein, weil dann beide einem Konflikt aus dem Weg gehen können“, sagt Jamie Whitehouse von der University of Portsmouth. Sich bei Stress zu kratzen, wurde bisher nur als Nebenprodukt einer mit dem Stress verbundenen körperlichen Reaktion angesehen. Das Verhalten könnte sich aber auch zu einer Signalfunktion weiterentwickelt haben. Für einen dominanten Affen gäbe es zwei Gründe, ein offensichtlich gestresstes Gruppenmitglied besser nicht anzugreifen. Zum einen wäre es riskant, da sich der andere im Stresszustand unvorhersehbar verhalten könnte. Zum anderen wäre eine Attacke möglicherweise gar nicht nötig, da der andere momentan sowieso schon stark geschwächt ist. Von diesem Mechanismus der Konfliktvermeidung würden sowohl der potenzielle Aggressor als auch sein Gegenüber profitieren.
Die Forscher beobachteten mit Hilfe von Filmaufnahmen sechs Monate lang das Verhalten frei lebender Rhesusaffen (Macaca mulatta) auf der Insel Cayo Santiago in Puerto Rico. Die gesamte Population bestand aus mehr als 200 Affen, die Hälfte davon bestand aus Jungtieren. Ausgewählt wurden 45 erwachsene Männchen und Weibchen, deren sozialer Rang innerhalb der Gruppe bekannt war. Es zeigte sich, dass sich ein Affe in einer Stresssituation häufiger kratzte, zum Beispiel wenn ein ranghöheres Tier in seiner Nähe war. Kratzte sich der Rangniedere dann nicht, wurde er mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent vom dominanten Affen angegriffen. Bei einem Tier, das sich kratzte, sank dieser Wert auf 50 Prozent. Auch bei einer Begegnung zweier gleichrangiger Affen, zwischen denen keine freundschaftlichen Beziehungen bestanden, kam es seltener zu aggressivem Verhalten, wenn sich einer der beiden kratzte. Generell kratzten sich Männchen häufiger als Weibchen.
Offenbar werten die Affen das Kratzen als Signal, das den emotionalen Zustand eines Gruppenmitglieds anzeigt, und reagieren darauf mit verringerter Aggressivität. Das sorgt für ein konfliktärmeres Zusammenleben und stabilisiert die Gruppe insgesamt. Die grundsätzliche Fähigkeit zu erkennen, dass ein anderer gestresst ist, könnte nach Ansicht der Autoren während der Evolution des Menschen für die Entwicklung von Empathie von Bedeutung gewesen sein.
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