Kollaboration und Verrat in Babylon
Der assyrisch-babylonische Konflikt wird für die Forschung ab etwa 1200 vor Christus erstmals fassbar. Ab dem 9. Jahrhunderten schaffen es die Assyrer immer wieder und für immer längere Zeit, die Babylonier zu dominieren. Die beiden Völker standen sich zwar immer sprachlich nahe, aber nicht kulturell-religiös. "Die Babylonier waren die Schöngeister, die Assyrer eher die Militaristen", fasst es Michael Jursa von der Universität Wien griffig zusammen. Dieser Unterschied lag in ihren jeweiligen Religionen begründet. "Der assyrische Staatsgott hatte imperiale Züge", erklärt Jursa. "Er forderte, dass das Reich immer weiter ausgedehnt werden sollte. Darum waren die Assyrer sehr expansionsorientiert, während die Babylonier solche Bestrebungen nicht kannten." Zwischen 621 und 616 vor Christus gelang es einem Mann namens Nabopolassar, die Assyrer aus Babylon zu vertreiben und König von Babylon zu werden. Dieser Mann behauptete von sich, der Sohn eines Niemands zu sein. Aber wer war er wirklich?
"Niemand, der wirklich obskurer Herkunft ist, steigt zum König von Babylon auf. Nabopolassar muss notwendigerweise aus einer einflussreichen Familie stammen", schreibt Jursa. Durch einen Brief aus den assyrischen Staatsarchiven kam der Forscher dem dunklen Geheimnis dieses Mannes auf die Spur. In diesem Brief, der aus der Zeit nach Nabopolassars Vertreibung der Assyrer stammt, berichteten assyrische Beamte, dass sie den Leichnam eines gewissen Kudurru geschändet und durch die Straßen von Uruk geschleift hätten. So etwas taten Assyrer nur mit Staatsfeinden. Durch das Schänden eines Leichnams wurde die Sippenhaft für die lebenden Feinde und Verräter der Assyrer symbolisiert.
Kudurru war um 647 vor Christus ein hoher Funktionär, der im Dienste des assyrischen Königs Assurbanipal in Südbabylonien wirkte. Interessant ist hier vor allem die Namensform. Jursa zeigt, dass Kudurru die Kurzform zu dem Namen Nabû-kudurri-usur ist. Dieser Name aber entspricht dem Namen, den wir als Nebukadnezar kennen. Nun hatte Nabopolassar auch einen Sohn dieses Namens; das war genau der Nebukadnezar, der später die Juden in die so genannte "Babylonische Gefangenschaft" führen sollte.
"Nabû-kudurri-usur" oder auch die aramäische Form "Nebukadnezar" ist ein seltener Name, wie Jursa zeigen kann. Allerdings gab es in Babylonien und Assyrien schon den Brauch, einen Namen in einer Familie mehrfach zu verwenden, wenn wenigstens eine Generation dazwischenlag.
Und so löst sich das Puzzle auf: Der heute noch bekannte Nebukadnezar (Nabû-kudurri-usur) war - so die These von Jursa - der Enkel jenes Kudurru, dessen Leichnam geschändet worden war und dessen Name in der Langform ebenfalls Nabû-kudurri-usur lautete. Nabopolassar war folglich der Sohn des Kudurru. Und das bedeutet:Nabopolassar stammte aus einer babylonischen Familie, die jahrelang dem assyrischen Herrscherhaus gedient hatte. Erst Nabopolassar selbst kündigte diese Kollaboration auf, musste aber gleichzeitig vor seinen babylonischen Landsleuten verheimlichen, dass er aus einer Familie von Kollaborateuren stammte. Darum bezeichnete er sich als Sohn eines Niemands. Die Assyrer aber wussten, wer der Vater von Nabopolassar war. Dieser hatte von den Umsturzplänen seines Sohnes vermutlich nie etwas erfahren. Spätestens 642 war er nicht mehr im Amt, und vermutlich war er auch um 621 bereits tot.
Die Schändung des Leichnams von Kudurru war die letzte Rache der Assyrer. Wenige Jahre später, 614 vor Christus, war das Reich der Assyrer am Ende.