Geduld ist mehr als Charakter-Sache

Schon Kinder entscheiden sich gegen spätere Belohnung, wenn das Umfeld sie vorher enttäuscht hat
Neue Erkenntnisse der Marshmallow-Experimente: Einer Versuchung zu widerstehen, wenn eine größere Belohnung lockt, hängt auch vom Vertrauen in die Umgebung ab.
Neue Erkenntnisse der Marshmallow-Experimente: Einer Versuchung zu widerstehen, wenn eine größere Belohnung lockt, hängt auch vom Vertrauen in die Umgebung ab.
© J. Adam Fenster / University of Rochester
Rochester (USA) - Ob an der Börse oder beim Naschen: Es ist nicht nur Willensstärke, die Menschen geduldig auf eine Belohnung warten lässt – einen großen Einfluss haben auch frühere Erfahrungen, berichten US-Forscher. Ihre Ergebnisse relativieren ein klassisches Experiment der Psychologie, den „Marshmallow-Test“. Er hatte in den 1960er Jahren gezeigt, dass manche Kinder warten können, während andere schnell der Versuchung nachgeben, und dass die geduldigen Kinder später im Leben meist erfolgreicher waren. Doch was bislang als angeborener Charakterzug und innere Selbstkontrolle galt, zeigte sich jetzt veränderlich: Wenn Kinder zuvor gelernt hatten, dass ihre Erwartung auch enttäuscht werden kann, hatten sie im Schnitt vier mal weniger Geduld, schreiben die Forscher im Fachblatt „Cognition“. Sie sprechen von „zuverlässigen oder unzuverlässigen Situationen“, welche den Menschen beeinflussen.

„Auf Belohnung warten zu können spiegelt nicht nur die Fähigkeit eines Kindes zur Selbstkontrolle, es zeigt auch seinen Glauben an den praktischen Sinn des Wartens“, berichtet Celeste Kidd, Hauptautorin der Studie. „Das Aufschieben einer Belohnung ist nur dann eine vernünftige Entscheidung“, so die Kognitionsforscherin an der University of Rochester, „wenn das Kind glaubt, dass es nach akzeptabler Wartezeit tatsächlich ein zweites Marshmallow bekommt.“ Kidds Team erweiterte das klassische Experiment, um herauszufinden, ob die besagte Willenskraft nur angeboren ist oder auch erlernt sein könnte. In den ursprünglichen Tests hatte Walter Mischel an der Stanford University vierjährigen Kindern einzelne Leckereien wie Marshmallows oder Kekse auf den Tisch gelegt. Dann blieben sie mit der Entscheidung allein, sofort zu essen oder durch Warten eine zweite Belohnung zu bekommen. In späteren Kontrollen zeigte sich, dass die Kinder mit großer Wartefähigkeit im späteren Leben durchschnittlich höhere Stressresistenz, mehr soziale Kompetenz, höhere Noten, weniger Suchtprobleme und mehr beruflichen Erfolg an den Tag legten. Diese Erkenntnisse stellen heute eine wichtige Basis der Entwicklungs- und Bildungsforschung.

Doch bessere Selbstkontrolle und ihre positiven Folgen sind offenbar doch nicht allein das Ergebnis der Gene, beschreibt Ko-Autor Richard Aslin: „Wir wissen, dass das Temperament eindeutig angeboren ist, weil Säuglinge sich von Geburt an unterschiedlich verhalten. Aber dieses Experiment liefert belastbare Beweise, dass die Handlungen kleiner Kinder auch auf rationalen Entscheidungen über ihr Umfeld beruhen.“ Ist das Umfeld nicht verlässlich und Menschen halten ihre Versprechen nicht, so verlieren schon Kindergartenkinder ihr Vertrauen. Getestet hatten die Forscher hatten insgesamt 28 drei- bis fünfjährige Mädchen und Jungen. Zunächst sollten sie ein Bild malen und bekamen dazu einen Becher gebrauchter Buntstifte. Sie konnten diese gleich benutzen oder zwei Minuten warten, um eine Riesenauswahl neuer Buntstifte geholt zu bekommen. In der zweiten Phase hatten sie ebenfalls die Wahl: sofort einen kleinen bunten Aufkleber zu nehmen oder auf das Holen vieler anderer Aufkleber zu warten. Beide Male lohnte sich das Warten nur für die Kinder der ersten Zufallsgruppe mit „zuverlässiger Umgebung“: Sie bekamen das Versprochene. Den Kindern der zweiten Gruppe mit „unzuverlässiger Umgebung“ wurde nach Rückkehr erklärt, die Stifte oder Sticker seien doch nicht zu haben. Sie sollten einfach doch nutzen, was da sei. In der dritten Phase dann folgten die klassischen Leckereien: Ein Marshmallow auf dem Tisch ohne jegliche Ablenkungsmöglichkeit testete die Geduld. In Aussicht gestellt war ein zweiter, der geholt werden müsse – ohne Zeitangabe. Vom Nebenraum aus beobachteten die Forscher dann das Verhalten der Kinder und kamen erst nach 15 Minuten – oder nach dem ersten Biss – zurück.

Das Ergebnis war so überraschend eindeutig, dass dem Team keine Ausweitung auf mehr Testkinder nötig scheint: In der „Unzuverlässig“-Gruppe war die Süßigkeit bereits nach durchschnittlich drei Minuten und zwei Sekunden verzehrt, nur einer der vierzehn kleinen Probanden hielt die vollen 15 Minuten durch. In der „Zuverlässig“-Gruppe dagegen lag die Wartezeit im Schnitt bei 12 Minuten und zwei Sekunden. Insgesamt neun der Vierzehn warteten die gesamte Viertelstunde. Manche spielten mit der Leckerei, andere verdeckten ihre Augen oder versuchten zu schlafen, um der Versuchung zu widerstehen.

„Ich war erstaunt, dass der Effekt so groß war“, sagt Aslin, „ich dachte, wir würden einen Unterschied von vielleicht einer Minute bekommen.“ In früheren Marshmallow-Studien hatte die Wartezeit im Schnitt bei sechs Minuten gelegen. Und selbst wenn man den Kindern damals Warte-Tricks beigebracht hatte, war der Effekt geringer als jetzt. Das Verstecken der Süßigkeit etwa steigerte die Zeit nur um durchschnittlich 3,75 Minuten. Das Ermutigen, bewusst an die spätere Belohnung zu denken, nur um 2,53 Minuten. In der neuen Studie allerdings verdoppelte der Einfluss einer zuverlässigen Umgebung die übliche Wartezeit, eine unzuverlässige halbierte sie. Dieser klare Unterschied zeigt offenbar umso deutlicher, wie sehr Kindheitserfahrungen das Erwachsenenleben prägen. So schreiben die Forscher: „Dies spiegelt wohl nicht nur Unterschiede in der Fähigkeit zur Selbstkontrolle, sondern auch die Überzeugung über die Stabilität der Welt.“

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