Evolution des Menschen: Knochen-Gen übernimmt neue Funktion im Gehirn

Nur bei Primaten ist das Osteocrin-Gen auch in Neuronen der Großhirnrinde aktiv und steuert wahrscheinlich die Vernetzung der Nervenzellen beim Hirnwachstum
Nachdem das Knochen-Gen Osteocrin im Gehirn der Primaten eine neue Funktion übernommen hatte, kam es im Lauf der Evolution zu einem verstärkten Hirnwachstum.
Nachdem das Knochen-Gen Osteocrin im Gehirn der Primaten eine neue Funktion übernommen hatte, kam es im Lauf der Evolution zu einem verstärkten Hirnwachstum.
© Vivian Budnik, University of Massachusetts Medical School
Boston (USA) - Obwohl Menschen und Mäuse über nahezu dieselbe Zahl an Genen verfügen, entwickelt sich das menschliche Gehirn zu einem weitaus komplexeren und leistungsfähigeren Organ. Das ist nicht auf verschiedenartige Gene zurückzuführen, sondern auf die unterschiedliche Steuerung ihrer Aktivitäten. Ein ungewöhnliches Beispiel dafür haben amerikanische Biologen jetzt entdeckt. Ein Gen, das bei Mäusen nur in Knochen- und Muskelzellen aktiv ist, war beim Menschen überraschenderweise auch in bestimmten Hirnzellen stark aktiviert. Offenbar erhielt das Knochen-Gen Osteocrin im Lauf der Evolution eine zweite, für die Entwicklung der Großhirnrinde bedeutende Funktion, berichten die Forscher im Fachjournal „Nature“. Es gebe Hinweise darauf, dass eine Mutation dieses Gens neurologische Krankheiten verursachen könnte, die mit einer verminderten Intelligenz verbunden sind.

„Wir haben etwas entdeckt, was uns einen Einblick in die genetischen Mechanismen vermittelt, auf denen die Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten von Mäusen und Menschen beruhen“, sagt Michael Greenberg von der Harvard Medical School in Boston. Sein Forscherteam kultivierte ein Gemisch verschiedener Zelltypen der Großhirnrinde in einer Nährlösung. Durch Zugabe von Kaliumionen simulierten die Biologen eine Aktivierung der Nervenzellen, wie sie bei der Weiterleitung elektrischer Signale im Gehirn erfolgt. Vorher und nachher ermittelten sie für jedes Gen die Menge an produzierter Boten-RNA als Maß für die Genaktivität. Auf diese Weise identifizierten die Forscher einige wenige Gene, die nur in menschlichen Hirnzellen, nicht aber in denen von Mäusen oder Ratten aktiviert wurden.

Eines dieser Gene war das Osteocrin-Gen, das in den Hirnzellen der Nager dauerhaft abgeschaltet war. Es stellte sich heraus, dass das Gen nur in den Neuronen des Neocortex und anderer Hirnregionen des Menschen aktiv ist, die für kognitive Hirnfunktionen verantwortlich sind. Wie vergleichende DNA-Analysen ergaben, lag vor dem Osteocrin-Gen der menschlichen Neuronen ein zusätzlicher DNA-Abschnitt, ein sogenannter Enhancer, der in den Hirnzellen von Mäusen nicht vorhanden war. Dieser Enhancer diente als Bindungsstelle für ein Protein, welches das Gen einschaltet. Weitere Untersuchungen zeigten, dass das aktive Osteocrin-Gen bei Menschen und anderen Primaten das Wachstum von Fortsätzen der Nervenzellen reguliert und damit wahrscheinlich die Vernetzung der Neuronen während des Hirnwachstums positiv beeinflusst. In Versuchen mit Makaken beobachteten die Biologen, dass das Gen bei der Verarbeitung visueller Signale aktiviert wird. Es dürfte demnach auch bei erwachsenen Affen und Menschen für bestimmte Hirnfunktionen von Bedeutung sein.

Während der Evolution des Primatenhirns wurde also das in den Hirnzellen anderer Säugetiere dauerhaft abgeschaltete Osteocrin-Gen mit Hilfe eines Enhancers reaktiviert und für eine völlig neue Funktion genutzt. Ist aufgrund einer Mutation das Einschalten des Gens nicht mehr möglich, könnte das die Gehirn- und Intelligenzentwicklung beeinträchtigen oder autistische Erkrankungen begünstigen, vermuten die Autoren. Wahrscheinlich gebe es weitere Gene, die wie das Osteocrin-Gen in neuer Funktion das starke Wachstum und die gesteigerte Leistung des menschlichen Gehirns ermöglicht haben.

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