Emotionale Geschichten fördern das Wir-Gefühl

„Wir prüften die Hypothese, dass eine tragische Geschichte das Endorphinsystem stimuliert, indem sie einen Zustand psychischen Schmerzes erzeugt“, erklären die Wissenschaftler um Robin Dunbar von der University of Oxford. Das hieße, dass möglicherweise seelischer und körperlicher Schmerz durch dämpfende Mechanismen in den gleichen Hirnregionen kontrolliert wird. Vom Ausdruck positiver Empfindungen wie Lachen, Singen und Tanzen sei zudem bekannt, dass dadurch das Endorphinsystem angeregt und das Gefühl der Gruppenzugehörigkeit verstärkt wird. Die Forscher untersuchten nun, ob ein hochemotionaler Film über das schwere Leben eines behinderten obdachlosen Kindes ähnliche Wirkungen auf Zuschauergruppen hat.
An der Studie beteiligten sich insgesamt 169 Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und 72 Jahren, die die 90-minütige Filmvorführung in Gruppen von 2 bis 49 Personen besuchten. Als Kontrolle diente ein Teil dieser Probanden, die sich zu einem anderen Zeitpunkt zwei sachliche Dokumentarfilme ansahen. Die Mitglieder der einzelnen Gruppen waren nicht miteinander verwandt oder befreundet. Vor und nach der Vorführung füllten die Teilnehmer psychologische Fragebögen aus und unterzogen sich einem Schmerztest. Dabei wurde ermittelt, wie lange sie eine mit der Zeit schmerzhafte Körperhaltung ertrugen.
Bei den meisten Zuschauern des emotionalen Films erhöhte sich die Schmerzschwelle – ein indirektes Anzeichen für eine vermehrte Endorphinproduktion. Außerdem fühlten sich diese Teilnehmer stärker als zuvor mit denen verbunden, die mit ihnen die Filmvorführung erlebt hatten. Für die Dokumentarfilme war keiner dieser Effekte nachweisbar. Einige Teilnehmer gaben an, das Schicksal des Kindes im Film hätte sie kaum emotional bewegt. Bei diesen Personen hatten sich auch das Schmerzempfinden und das Gefühl der sozialen Beziehung zur Gruppe nicht verändert.
Die Autoren halten folgende Kausalkette für wahrscheinlich: Die emotionale Reaktion auf den Film erhöht die Produktion von Endorphinen, wodurch die Schmerzschwelle steigt und sich das Gefühl der Verbundenheit verstärkt. Es sei aufgrund genauerer statistischer Analysen unwahrscheinlich, dass der Film zunächst die soziale Bindung und diese dann das Schmerzempfinden beeinflusst. „Die Ergebnisse zeigen“, so die Autoren, „dass sich unsere Begeisterung für das Geschichtenerzählen in der Evolution deshalb entwickelt haben könnte, um – ähnlich wie gemeinsames Lachen, Singen und Tanzen – den Zusammenhalt sozialer Gruppen zu verbessern.“