100 Jahre Atommodell: Dem Quantenkosmos auf der Spur

Vor hundert Jahren entwarf Niels Bohr seine Theorie, die ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur modernen Atomphysik war
Niels Bohr im Gespräch mit Albert Einstein
Niels Bohr im Gespräch mit Albert Einstein
© Paul Ehrenfest
Wer heute ein Smartphone benutzt, seinen Computer anschaltet oder den Einkauf an der Supermarktkasse abscannen lässt, denkt meist nicht daran, dass all diese Innovationen sich dem „Goldenen Zeitalter“ der Physik verdanken. In diesen entscheidenden Jahrzehnten zwischen Beginn und Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelten kühne Forscher neue Theorien, die das bisherige Gedankengebäude der Naturwissenschaften umstürzten und durch gänzlich neuartige Theorien ersetzten. Ein entscheidender Zwischenschritt auf diesem Weg jährt sich nun zum hundersten Mal: das Bohrsche Atommodell.

Der 1885 als Sohn eines Professors für Physiologie geborene Niels Bohr gehört ohne Zweifel zu den brillantesten Wissenschaftlern in der Geschichte der Menschheit. Der breiteren Öffentlichkeit ist er aber nicht so gut bekannt wie einige seiner Schüler, zu denen Nobelpreisträger wie Heisenberg, Schrödinger und Pauli zählen. Das mag daran liegen, dass Bohr sich gerne etwas umständlich auszudrücken pflegte. Das Denken in Alternativen entsprach aber durchweg seinem nachdenklichen Naturell. Seiner Arbeit als Wissenschaftler nutzte es sehr, Dinge aus mehreren Perspektiven zu betrachten – vor allem auf dem unanschaulichen Terrain der Atomphysik. Albert Einstein schätzte Bohr ungemein, als Menschen wie als Wissenschaftler. „Niemand wüsste, wie unsere Kenntnis vom Atom heute beschaffen wäre ohne ihn“, bemerkte er einmal, zur Bedeutung von Bohrs Leistungen gefragt.

Die Physik stand um die vorletzte Jahrhundertwende vor mehreren schwer zu knackenden Rätseln. Eine Sorte Probleme betraf den Zusammenhang von Raum und Zeit. Diese konnte Einstein mit seinem genialen Wurf, der Relativitätstheorie, lösen. Die andere Klasse von Problemen handelte von der Struktur der Materie, vom Aufbau der kleinsten Teilchen und ihrer Wechselwirkung mit Licht und anderen Formen von Strahlung.

Max Planck hatte nachgewiesen, dass Energie und Strahlung nur in kleinsten, diskreten Einheiten, den sogenannten Quanten, vorkommen. Diese Erkenntnis sprengte das Weltbild der damaligen Physik, wie sie sich nach der Mechanik Newtons und der Maxwellschen Elektrizitätslehre darstellte. Nach der klassischen Physik sollten alle Übergänge kontinuierlich sein. Alles sollte sich in beliebig feine Einheiten unterteilen lassen, auch Energie und Strahlung. Mit einem Satz der alten Philosophen: Die Natur macht keine Sprünge.

Mit Plancks Entdeckung wurde den Physikern jedoch bewusst, dass die Natur durchaus Sprünge macht – ja sogar, dass das Meiste im atomaren Bereich überhaupt nur in Sprüngen vor sich geht. Wenn es uns als kontinuierliches Geschehen erscheint, dann nur, weil wir so grobkörnig und verwaschen hinschauen, dass uns die vielen kleinen Sprünge nicht weiter auffallen. Mit neuen Instrumenten, insbesondere in der Spektroskopie, konnten die Physiker die Welt des Kleinsten aber immer besser zu erkunden.

Dabei fanden sie immer mehr über die Atome als Bausteine der Materie heraus. Doch zugleich stellten sie fest, dass ihre Erkenntnisse sich nicht zu einem schlüssigen Bild zusammen fügen ließen. Das Dilemma bestand darin: Nach dem, was man über elektrische Felder und Ladungen wusste, mussten beschleunigte geladene Körper Strahlung aussenden. Und Nobelpreisträger Ernest Rutherford hatte herausgefunden, dass Atome aus einem winzigen Atomkern aus positiv geladenen Protonen bestehen, um den negativ geladene Elektronen kreisen.

Auf ihren Bahnen erfahren die Elektronen Beschleunigungen. Dies müsste sie dazu veranlassen, Strahlung auszusenden. Dabei verlören sie Energie und würden sich auf immer engeren Kreisen um den Atomkern bewegen, bis sie schließlich in ihn stürzen. Atome sind jedoch grundsätzlich stabil.

Niels Bohr hatte schon als junger Mann auf vielen unterschiedlichen Gebieten hervorragende Arbeit geleistet. Um seine wissenschaftliche Neugier und seinen Ehrgeiz zu befriedigen, suchte er aber nach einer wahrhaft großen Aufgabe. Als er das Stabilitätsproblem der Atome erkannt hatte, machte er sich deshalb sogleich verbissen an die Arbeit zu einem neuen Ansatz, den er schließlich in drei Teilen ab Juli 1913 im „Philosophical Journal“ publizierte.

Sein Vorschlag war so einfach wie genial: Er dachte sich das Atom als punktförmigen, positiv geladenen Kern, um den die Elektronen wie in einem Planetensystem kreisen. Um das Problem der Instabilität zu umgehen, führte er eine entscheidende neue Quantenregel ein: Es sollten nur diejenigen Kreisbahnen erlaubt sein, deren Energieniveaus ganzzahligen Vielfachen des Planckschen Wirkungsquantums entsprechen. Zwischen diesen Bahnen kann ein Elektron hin- und herspringen, wenn es Strahlung aufnimmt oder aussendet. Die Energie der Strahlung entspricht dann genau der Energiedifferenz zwischen diesen Bahnen.

Bohr war nicht der erste, der sich mit Atommodellen und dem Stabilitätsproblem beschäftigt hatte. Er war aber derjenige, der dank seiner unglaublichen physikalischen Intuition – die sich mit derjenigen Einsteins messen konnte – und dank seiner Abstraktionskraft den Zusammenhang zwischen den Kreisbahnen, den Energieniveaus und den Planckschen Strahlungsgesetzen sehen konnte.

Mit seinem Modell, das von anderen Physikern wie dem Münchner Arnold Sommerfeld weiterentwickelt wurde, brachte Bohr eine neue Art zu denken in die Atomphysik, die sich als enorm fruchtbar herausstellen sollte. Das Bohrsche Atommodell eignete sich zwar nur für spezielle Atome wie Wasserstoff, die es gut beschreiben konnte. In schwierigeren Fällen erwies es sich jedoch als unzureichend.

Deshalb ging die moderne Physik einen noch abstrakteren Weg. Mit der vollen mathematischen Theorie der Quantenmechanik durch Heisenberg und Schrödinger wurde Bohrs Modell dann obsolet. Elektronen wurden fortan keine festen Bahnen mehr zugeordnet, sondern lediglich Räume, in denen ein Aufenthalt wahrscheinlicher ist als an anderen Stellen. Bohr hatte als geistiger Vater diese Entwicklung aber über Jahre begleitet und angeleitet. Sein Institut in Kopenhagen galt jungen Forschern als „Mekka der Atomphysik“.

Nachdem sein Vaterland Dänemark von den Nazis besetzt worden war, floh der jüdischstämmige Bohr nach Schweden, wo er sich beim König erfolgreich um Asyl für seine jüdischen Landsleute einsetzte. Seine Flucht ging weiter in die USA, wo er am Manhattan Project mitwirkte, dem amerikanischen Atomwaffenprogramm, um einer möglichen Nazi-Atombombe zuvorzukommen. Nach Kriegsende gehörte er zu denjenigen Wissenschaftlern, die sich – erfolglos – öffentlich gegen ein Wettrüsten zwischen Ost und West und für internationale Nuklearkontrolle einsetzten. Bohr kehrte nach Dänemark zurück und nahm er seine Forschungsarbeiten wieder auf. Auch in Europa sprach er sich für mehr Zusammenarbeit aus und engagierte sich für die Gründung des CERN. 1962 starb er in Kopenhagen.

Sein Name ist untrennbar mit der Quantenphysik verbunden. Nach Bohr sind ein Mondkrater, ein Element und mehrere handliche Größen in der Atomphysik benannt. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen gewann er 1922 auch den Nobelpreis für Physik. Die Einzelleistung, in der sein Name verewigt ist, bleibt aber sein von der Entwicklung überholtes Atommodell.

© Wissenschaft aktuell
Quelle: Eigener Bericht
Originalveröffentlichung:Niels Bohr (1913): I. On the constitution of atoms and molecules, Philosophical Magazine, Series 6, 26: 151, S. 1 – 25; DOI: 10.1080/14786441308634955
http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/14786441308634955
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