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Der Prototyp für die intelligente Stadt

Smart Santander - Das Stadt-Labor am Atlantik

Luis Muñoz vor einem von hunderten Netzknoten in der Altstadt von Santander
Luis Muñoz vor einem von hunderten Netzknoten in der Altstadt von Santander
© Jan Oliver Löfken

 Von Jan Oliver Löfken 

Santander im November 2011

 













Aufgeräumt und sauber schmiegen sich Badestrände und Hafenpromenade von Santander an den Atlantik. Die Tapas-Bars im angrenzenden Stadtzentrum locken vor allem Einheimische an, Touristenhorden wie am Mittelmeer kennt die Hauptstadt der spanischen Provinz Kantabrien nicht. Doch auf der Liste der Wunschziele von Stadtplanern aus der ganzen Welt rangiert die 180.000-Einwohner Stadt ganz oben. Denn hier entsteht mit "SmartSantander" ein einzigartiges Testfeld, in der die Stadt selbst zum Labor wird. Santander will zeigen, was es für Bürger tatsächlich bedeutet, in einer intelligenten Stadt zu leben.


Hinter abstrakten Schlagwörtern wie "SmartGrid", "E-Mobilität" oder "Klimaschutz", die zum Standardrepertoire von sich modern präsentierenden Stadtplanern und Lokalpolitikern gehören, will sich Luis Muñoz gar nicht erst verstecken. Der IT-Professor an der Universidad de Cantabria ist der Motor von "SmartSantander" und verweist lieber auf Tatsachen, genauer auf die 3.000 von insgesamt 12.000 geplanten Sensoren, die seine Arbeitsgruppe binnen weniger Monate quer durch die Stadt bereits installiert hat. "Damit geht SmartSantander weiter als die traditionellen Smart-City-Projekte", sagt Muñoz.


Vom Verkehr, über Luftqualität und Wetter bis zum Lärmpegel werden für das Leben in der Stadt relevante Daten gesammelt. Über 300 magnetoelektrische Module setzten die Wissenschaftler beispielsweise in den Asphalt von Parkplätzen. Stellt jemand sein Fahrzeug über diesen ab, verändert die Metallkarosse das elektromagnetische Feld und der Platz wird als "besetzt" registriert. Kleine, graue Kästen mit integrierten Temperatursensoren hängen in Abständen von einigen Metern an Hauswänden oder Laternenmasten und liefern Echtzeitdaten über das Stadtklima. Die meisten Boxen verfügen zusätzlich über ein lichtempfindliches Modul, das die lokale Helligkeit ermittelt. Damit lässt die Straßenbeleuchtung sich bedarfsgerecht und energiesparend regeln.


Gesünder leben dank Sensoren


Mit flächendeckend verteilten Gasdetektoren bestimmen Muñoz und Kollegen die Konzentration an giftigem Kohlenmonoxid, einem Bestandteil der Autoabgase. Und an nahezu jeder Straßenecke im Zentrum Santanders lauschen Lärmsensoren dem Treiben der Stadt. Diese Messungen fließen in eine Lärmkarte ein, die laut einer Direktive der EU jede europäische Stadt in den kommenden Jahren erstellen soll. Das erklärte Ziel: die Belastung der Gesundheit durch Lärm deutlich zu senken.


Betrieben mit langlebigen Lithium-Batterien senden all diese Sensoren im Abstand weniger Minuten ihre Messdaten per Funk zu nahegelegenen Knotenpunkten, den Gateways. Diese sind bestückt mit Antennen wie bei einem WLAN-Router und senden die Informationen über Mobilfunknetz oder eine fest verkabelte Internetanbindung an einen Zentralrechner. Schon heute kann jeder Bürger diese ständig aktualisierten Daten auf einem Stadtplan im Web abrufen. Und in Kürze steht dieser interaktive Service für die ersten Straßenzüge mit Verkehrs-, Lärm- und Wetterdaten auch in einer App für Android-Smartphones oder iPhones zur Verfügung.


Doch ein Sensornetzwerk und eine schicke App allein machen keine Stadt intelligent. Das weiß auch Muñoz. "Wir sind Experten für Sensoren, aber die Ideen für deren Anwendung müssen von außen kommen", sagt er. So bildet die Schar mit 3.000 installierten Sensoren nur die erste Phase von "SmartSantander". Ihr Abschluss im November 2011 hat erfolgreich belegt, dass eine funktionierende Detektor-Infrastruktur schnell und günstig aufgebaut werden kann. Die Mittel dazu – etwa eine Million Euro - flossen zu gleichen Teilen aus den EU-Kassen in Brüssel und aus dem Stadtsäckel Santanders. Für die zweite Phase mit einem Ausbau auf mindestens 5.000 Sensoren bis Ende 2012 öffnete sich das Projekt für neue Ideen. "Die Resonanz war sehr gut", sagt Muñoz. Knapp 50 Vorschläge aus ganz Europa, eingereicht von Forschern und Unternehmen, konnte er nach nur sechs Wochen verbuchen. Aber vor der Auswahl der Projekte, die von der EU jeweils mit bis zu 200.000 Euro gefördert werden können, will er keine Details zur dieser Ausschreibung verraten.


Gesichert ist die Ausweitung des Netzwerks auf den größten Park der Stadt, der sich direkt hinter den Universitätsgebäuden erstreckt. "Im nächsten Jahr werden wir hier die Bewässerung über Feuchtigkeitssensoren im Boden steuern können", sagt Veronica Gutierrez, Wissenschaftlerin aus der Arbeitsgruppe von Luis Muñoz. Deutlich weniger Trinkwasser - im Sommer ein rares Gut in Spanien – soll dadurch benötigt werden.


EU-weites Projekt für die intelligente Stadt der Zukunft


Wie für ein EU-Projekt des 7. Forschungsrahmenprogramms üblich, beteiligen sich auch andere Nationen an "SmartSantander". Am Institut für Telematik der Universität Lübeck beispielsweise testet das Team um Uniprofessor Stephan Fischer eine solare Stromversorgung für Sensoren oder mobile Messmodule, die – ähnlich wie ein Robot-Staubsauger – mit Hilfe von Infrarot- und Beschleunigungssensoren navigieren. Sie könnten in Innenräumen angewendet werden und Daten über das Raumklima, Sauberkeit oder Bewegungen von Personen liefern. Mobile Anwendungen stehen auch in Belgrad im Mittelpunkt, wo eine flächendeckende Analyse der Luftqualität in der Stadt über einige Dutzend Module auf den Dächern von Bussen des öffentlichen Nahverkehrs getestet wird. Und im britischen Guildford konzentrieren sich die Projektpartner auf die intelligente Vernetzung von Sensoren innerhalb von Gebäuden. Jede einzelne Komponente soll zur intelligenten Stadt der Zukunft beitragen und kann in das Stadt-Labor Santander integriert werden.


"Alles, was das tägliche Leben betrifft, lässt sich messen", weiß Muñoz. So denkt er unter dem Stichwort "Erweiterte Realität" an einen Informationsdienst für Touristen in Santander. Diese könnten auf ihrem Smartphone mit GPS-Ortung über das mobile Internet oder nahegelegende Bluetooth-Sender Informationen über Sehenswürdigkeiten in unmittelbarer Nähe erhalten. "Und Krankenwagen im Einsatz kann freie Fahrt garantiert werden", sagt er. Die Technik für eine solche dynamische Verkehrsregelung – von Muñoz "virtueller Korridor" genannt - stehe mit Ortungsmodulen und von einer Leitzentrale regelbaren Anzeigetafeln zur Verfügung. Weiter ausgebaut könne dieses System auch zur Stauvermeidung nach Großevents oder zur intelligenten Führung von Sanitätern zum richtigen Einsatzort effizienter als bisher verfügbare Verkehrsleitsysteme dienen. "Sensornetzwerke hätten auch eine Katastrophe wie auf der Love-Parade in Duisburg vermeiden können", ist Muñoz überzeugt. Fest installierte Kameras und Bewegungsmelder hätten das gefährliche Gedränge erfassen und per SMS-Nachricht nachströmende Menschen in eine andere Richtung leiten können.


Diese Ideen hat Muñoz allerdings nicht für sich allein gepachtet. Vergleichbare Projekte werden auch von anderen – IT-Unternehmen, Forschungsinstituten, Stadtplanern – in Europa, Asien und den USA voran getrieben. "Aber bei uns besteht bereits die grundlegende Infrastruktur in der Stadt und für jede umsetzbare Idee werden Sie bei uns offene Türen vorfinden", sagt er. So lädt er auch unabhängig von jeder Ausschreibung im Rahmen des EU-Projekts mögliche Partner ein, ihre Technologien in dem stadtweiten Labor in Santander auszuprobieren. Selbst neue Sensortypen könnten per "Plug&Play" in das bestehende Netzwerk integriert werden. "Lediglich die Gelder für die Umsetzung müssen die Interessenten mitbringen", betont Muñoz.


Transparenz als Schlüssel zum Erfolg


Genau in dieser Offenheit liegt der Unterschied von Santander in Vergleich zu anderen Smart-City-Projekten. Innerhalb Spaniens steht Santander in Konkurrenz zu Städten wie Barcelona und Málaga, wo an intelligenten Verkehrsleitsystemen, interaktiven Informationsplattformen und Smart-Grid-Strukturen gearbeitet wird. "Doch dort sind die Projekte bereits festgezurrt. Interessierte Entwickler und Firmen können sich nicht mehr direkt beteiligen", sagt Muñoz. Und um noch mehr Werbung für eine Beteiligung an "SmartSantander" zu machen, zieht der Netzwerkexperte einen weiteren Trumpf aus dem Ärmel. "Sowohl die Stadtverwaltung als auch die hiesige Wirtschaft unterstützt uns sehr stark", sagt er. Der Bürgermeister sei sofort von dem Projekt begeistert gewesen, habe die Hürden zur Installation des Netzwerkes schnell beseitigt und die Fördermittel zur Verfügung gestellt.


"Für die Zukunft müssen wir die Stadt verändern und Leute anziehen", unterstreicht Bürgermeister Íñigo de la Serna, Anfang 40, Mitglied der konservativen Volkspartei Partido Popular und von Haus aus Ingenieur, seine Unterstützung für das Projekt "SmartSantander". Mit Stolz berichtet er auf internationalen Konferenzen - wie vergangenen Dezember auf dem Smart City World Congress in Barcelona – von den Fortschritten in seiner Stadt. Auch unter den Bürgern scheint sich fast niemand an den permanent funkenden Modulen zu stören oder sich gar vor Elektrosmog oder einem Verlust der Privatsphäre im wachsenden Sensornetzwerk zu fürchten. "Noch kein einziger Sensor wurde beschädigt und bei der Installation der ersten 3.000 Module gab es nur mit einem einzigen Hausbesitzer Probleme", sagt Muñoz.


Diese enorme Akzeptanz ist für den Aufbau einer Smart City eine kaum zu vernachlässigende Bedingung. Denn Ängste, ausgeschnüffelt zu werden, können sich schnell zu lautstarken Protesten entwickeln und in Vandalismus münden. Brutal zertrümmert wäre jede noch so ausgeklügelte Sensortechnik zum Scheitern verurteilt. Doch wie lässt sich diese breite Bereitschaft, als Versuchskaninchen für Smart Cities in ganz Europa zu dienen, erklären?


"Nicht nur gegenüber potenziellen Partnern, auch gegenüber den Bürgern haben wir von vornherein auf große Offenheit gesetzt", sagt Muñoz. Alle zwei, drei Tage stünde in der Zeitung etwas über "SmartSantander". Informationen über jeden Entwicklungsschritt sind öffentlich und alle gewonnenen Messdaten im Internet verfügbar. Auch einen Ideenwettbewerb für die Stadtbevölkerung über den weiteren Ausbau der Sensornetze kann sich Muñoz vorstellen. Denn die meisten seien stolz darauf, dass ihre Stadt ein Testfeld für die Smart-City der Zukunft ist.


So wird Santander in Zukunft nicht nur als Labor für immer neue Sensornetzwerke, sondern auch als Prüfstein für die Strategie "Akzeptanz durch Transparenz" dienen. Die erste Projektphase, die nur unkritische Bereiche wie Verkehr, Wetter oder Luftqualität berührt, erzeugte verständlicherweise keinen Widerspruch. Doch sobald Smartphones über Bluetooth- oder GPS-Ortung persönliche Bewegungsdaten weitergeben und so den Abstand zur Privatsphäre schrumpfen lassen, könnten kritische Mahner ihre Stimme erheben. Diese Entwicklung fürchtet Muñoz für sich und seine Stadt nicht. Dem Trend zu mehr Offenheit, wie er sich auch in sozialen Netzwerken abzeichnet, steht er eher positiv gegenüber. "In der Vergangenheit hat die Kirche alles kontrolliert, nun ist es die Technologie. Es hat den gleichen Effekt und ich bin nicht ängstlich dabei", sagt er. Wie weit die Technologie in das Leben der Santander Bürger hinein reichen wird, wird nach Abschluss des EU-Projekts spätestens 2014 sichtbar werden. Die weltweite Aufmerksamkeit ist der Hafenstadt als Austragungsort der ISAF-Segel-Weltmeisterschaften für alle olympischen Bootsklassen jedenfalls sicher.  



 

 

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