Vom Neptunmond zum Nanoschaltkreis: Eiskristalle aus dem All zeigen seltsame Eigenschaften

Außerirdischer Eis-Mix zeigt negative lineare Kompressibilität und negative thermische Expansion - Material könnte als Schalter für Nanoelektronik dienen
Die Struktur des Methanol-Monohydrats in der Draufsicht bei (A) 160 Kelvin und 100 Kilopascal und (B) 160 Kelvin und 500 Megapascal. Die chemischen Bindungen bilden asymmetrische diamantförmige Rhomben, die sich hier horizontal dehnen (rote Pfeile), wenn sie vertikal (schwarze Pfeile) unter Druck geraten. In vereinfachter Form (C) entspricht das Prinzip einem Scherengitter.
Die Struktur des Methanol-Monohydrats in der Draufsicht bei (A) 160 Kelvin und 100 Kilopascal und (B) 160 Kelvin und 500 Megapascal. Die chemischen Bindungen bilden asymmetrische diamantförmige Rhomben, die sich hier horizontal dehnen (rote Pfeile), wenn sie vertikal (schwarze Pfeile) unter Druck geraten. In vereinfachter Form (C) entspricht das Prinzip einem Scherengitter.
© Science
London (Großbritannien)/Grenoble (Frankreich) - Wer im All fremde Himmelskörper untersucht, muss mit ungewohnten Eigenschaften rechnen: Das Eis der Planetenmonde um Neptun und Saturn dehnt sich auf Druck aus und schrumpft beim Erwärmen – deutlich anders als irdisches Eis, berichten britische Planetenforscher. Sie hatten die innere Struktur von Eismonden untersucht, auf denen es zu Eruptionen so genannter Eis-Lava kommt: Der dortige Mix aus Methanol und gefrorenem Wasser, Methanol-Monohydrat-Kristalle, lieferte die überraschenden Messergebnisse, die sich auf der Erde bestätigten. Das Ausdehnen unter Druck und Schrumpfen bei Wärmezufuhr - in zwei von drei Dimensionen - ist nicht nur für die Grundlagenforscher interessant, schreibt das Team im Fachblatt "Science": Es könnte auch der Mikro- und Nanoelektronik dienen, mit einzelnen Kristallen des Materials als Teile winziger Schaltventile.

"Es war wirklich unerwartet", so Dominic Fortes, Planetengeologe des University College London (UCL), "mein Fokus liegt darauf, die Mechanismen hinter vulkanischen Eruptionen im äußeren Sonnensystem zu verstehen. Wenn meine Ergebnisse die Türen für angewandte Wissenschaft auf der Erde öffnen, ist das ein Bonus." Fortes und Kollegen hatten das Eismaterial, aus dem etwa der Saturn-Mond Enceladus und der Neptun-Mond Triton bestehen, auf der Erde den im All typischen Druck- und Temperaturschwankungen ausgesetzt und unter Neutronenstreuung untersucht. An den Forschungszentren der Neutronenquellen ILL in Grenoble und ISIS im britischen Chilton bestätigte sich das ungewöhnliche Verhalten: Eine Temperatursteigerung zwischen 4 und 160 Kelvin bei normalem Umgebungsdruck am ISIS führte zum Schrumpfen in zwei Dimensionen beim Ausdehnen in der dritten – so genannte negative thermische Expansion (NTE), das Material wurde flacher und schmaler, aber länger. Am ILL zeigte sich obendrein eine negative lineare Kompressibilität (NLC): Bei Temperaturen zwischen 32 und 209 Kelvin und steigendem Druck bis zu 500 Megapascal - dem 5000-fachen Atmosphärendruck, wie er etwa 400 Kilometer tief im Inneren des Eismondes Titan vorherrscht - dehnte sich das Material in zwei Dimensionen aus, während es in einer schmaler wurde. Grund dafür ist das ungewöhnliche Kristallgitter des Methanol-Monohydrats: an den Spitzen verbundene Rhomben, gebildet durch die Kombination von Hydroxyl-Wasser-Ketten mit Methylgruppen, die in Richtung der NTE/NLC-Achse ausgerichtet sind. Entfernte Ähnlichkeit im Alltag haben komprimierbare Blumengitter oder Weinständer, die beim Druck in eine Richtung länger werden und sich schmal zusammenfalten.

Die "Eis-Lava" ist nicht das erste bekannte Material mit negativer linearer Kompressibilität und negativer thermischer Expansion, doch Materialien, die dies im kleinsten Maßstab auf molekularer Ebene zeigen, "solche kristallinen Festkörper mit intrinsischer NLC, sind extrem ungewöhnlich", schreibt das Team. Gerade deshalb aber wird das Material auch für Mikro- und Nanoelektroniker interessant: Seine Formveränderung ließe sich wie mikroskopisch kleine Druck-gesteuerte Ventile nutzen, die den Stromfluss in gewünschte Richtungen lenken.

(c) Wissenschaft aktuell
Quelle: "Negative Linear Compressibility and Massive Anisotropic Thermal Expansion in Methanol Monohydrate", A. Dominic Fortes, Emmanuelle Suard & Kevin S. Knight; Science, Vol 331, No. 6018, pp. 742-746


 

Home | Über uns | Kontakt | AGB | Impressum | Datenschutzerklärung
© Wissenschaft aktuell & Scientec Internet Applications + Media GmbH, Hamburg