Rekord in der Tiefsee: Viereinhalb Jahre Brutpflege

Krakenmutter versorgte ihr Gelege über den längsten Zeitraum, der jemals im Tierreich beobachtet wurde
Das Krakenweibchen über seinem Gelege
Das Krakenweibchen über seinem Gelege
© 2007 MBARI
Moss Landing (USA) - Wenn das keine Mutterliebe ist: Beinahe viereinhalb Jahre hockte eine werdende Krakenmutter über ihrem Gelege. In rund 1.400 Metern Tiefe beschützte sie ihre Brut nicht nur vor eventuellen Räubern, sondern sorgte auch dafür, dass stets frisches, sauerstoffreiches Wasser um die Eier strömte. Diese beispiellos lange Brutfürsorge konnten US-Biologen bei einem Tiefseekraken der Art Graneledone boreopacifica in freier Wildbahn dokumentieren. Über mehrere Jahre hinweg statteten sie dem Gelege mit Hilfe eines ferngesteuerten Tiefseefahrzeugs wiederholt einen Besuch ab und filmten die Entwicklung. Mit ihren Ausführungen im Fachblatt „PLoS ONE“ berichten die Forscher über die bislang längste Brutzeit, die jemals im Tierreich beobachtet werden konnte. Während der ganzen Zeit nahm die Krakendame übrigens vermutlich kaum bis gar keine Nahrung zu sich.

„Diese überraschenden Ergebnisse machen deutlich, wie wichtig die elterliche Fürsorge ist, um weit entwickelten Nachwuchs hervorzubringen, der die harten Bedingungen der Tiefsee bewältigen kann“, erläutert Bruce Robison vom Monterey Bay Aquarium Research Institute. Im Monterey Submarine Canyon vor der Küste Kaliforniens hatten die Biologen bei einer Forschungsfahrt mit einem ferngesteuerten Unterwasserfahrzeug im April 2007 in knapp 1.400 Metern Tiefe einen einzelnen Kraken beobachtet. Als sie im Mai, 38 Tage später, die Stelle erneut aufsuchten, stellten sie fest, dass dasselbe Tier mittlerweile auf einem Felsen an einer senkrechten Wand saß und mit seinen acht Fangarmen ein Gelege bewachte. Das Krakenweibchen war durch charakteristische Narben gut zu identifizieren.

In den folgenden Jahren suchten die Biologen das Weibchen 18-mal erneut auf und fanden es stets beim Beschützen seiner Brut. Auch wenn das Licht des Forschungsfahrzeugs sicherlich irritierend für das Tier gewesen sein dürfte, waren Robison und seine Kollegen bemüht, es ansonsten möglichst wenig zu stören. Während der Brutzeit zeigten sich bei der Mutter deutliche Zeichen der Alterung. Sie verlor an Gewicht, ihre Haut wurde fahler und schlaffer, die Augen wurden trüb. Bei keinem der Besuche konnten die Biologen den Kraken beim Fressen beobachten. Kleinen Krebstierchen schenkte sie lediglich Beachtung, indem sie diese wegscheuchte, wenn sie dem Gelege zu nahe kamen. Auch mit dem Greifwerkzeug des Tiefseegefährts angebotene Nahrung ignorierte sie. Dies bedeutet nicht zwingend, dass sie während der gesamten viereinhalb Jahre gar keine Nahrung zu sich nahm, macht es aber wahrscheinlich. Die Stoffwechselprozesse der Mutter verlaufen bei den kalten Temperaturen in der Tiefsee von nur rund drei Grad Celsius deutlich langsamer als bei anderen Krakenarten, die in geringeren Meerestiefen leben. Nur dadurch kann das Krakenweibchen überhaupt derart lange ohne oder mit nur sehr wenig Nahrung überleben.

Auch im September 2011 waren Mutter und Brut noch am angestammten Platz. Im Oktober 2011 aber fanden sich dann nur noch Überreste leerer Eihüllen. Nach 53 Monaten waren die Jungen offensichtlich geschlüpft, die Mutter verschwunden. Die Zahl der Jungtiere schätzen die Forscher anhand der Eihüllen auf etwa 160. Mit 53 Monaten Brutzeit sprengt der Tiefseekrake alle bislang in der Literatur verzeichneten Rekorde, schreiben die Forscher. Die längste bekannte Brutzeit bei Kraken lag bei 14 Monaten; der Wert stammte allerdings aus Laboruntersuchungen. Bei Fischen belaufen sich die längsten Zeiträume für bewachtes Brüten auf vier bis fünf Monate, bei Vögeln auf zwei Monate. Von anderen Tierarten sind durchaus längere Brut- oder Tragzeiten bekannt. So dauert die Schwangerschaft bei Elefanten 20 bis 21 Monate. Schlangenhaie tragen ihre Embryonen 42 Monate mit sich herum. In manchen Salamanderarten reift der Nachwuchs über 48 Monate heran.

Zwar handelt es sich lediglich um die Beobachtungen eines einzelnen Individuums, die Biologen gehen aber davon aus, dass biologische Abläufe in der Tiefsee aufgrund der niedrigen Temperaturen grundsätzlich mehr Zeit in Anspruch nehmen und sehr lange Brutzeiten daher kein Einzelfall sind. Die extreme Dauer ergibt sich ihrer Ansicht nach aus dem Zusammenspiel zweier verschiedener Umstände: Einerseits sorgt die Kälte in der Tiefsee dafür, dass die Entwicklungsgeschwindigkeit der Jungen in den Eiern stark verlangsamt abläuft. Andererseits ist es in der harten Umgebung der Tiefsee von entscheidendem Vorteil, wenn der Nachwuchs sofort nach dem Schlüpfen in der Lage ist, vollkommen selbstständig zu überleben. Für so weit entwickelte Jungtiere benötigt es ebenfalls eine besonders lange Entwicklungszeit. Und tatsächlich sind die frisch geschlüpften Jungen von Graneledone boreopacifica größer und weiter entwickelt als diejenigen anderer Tintenfische.

Bei Kraken ist es weit verbreitet, dass die Muttertiere nur einmal im Leben Nachwuchs bekommen und über ihr Gelege wachen, bis die Kleinen schlüpfen. Von zentraler Bedeutung ist dabei neben dem Schutz vor Räubern, dass sie den Eiern stets frisches Wasser zufächern und diese so mit ausreichend Sauerstoff versorgen. Diesen brauchen die Jungen für ihre Entwicklung. Nach dem Schlüpfen der Kleinen stirbt die Mutter – was der Brut allerdings in keinster Weise schadet, da die jungen Kraken bereits direkt nach dem Schlüpfen selbstständig lebensfähig sind. Bei Arten, die in geringeren Tiefen leben, sind jedoch deutlich kürzere Zeiten von ein bis drei Monaten gängig. Das Beispiel der außerordentlich langen Brutzeit von Graneledone boreopacifica zeigt, dass auf diese Weise auch die Lebensspanne verlängert werden kann – und die meisten Schätzungen der Lebensdauer von Cephalopoden sogar deutlich überschreitet.

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