Lieber in Dialekten: Rätoromanen wollen keine Vereinheitlichung ihrer Sprache

Die nur noch rund 60.000 Sprecher des Rätoromanischen wollen ihre fünf Dialekte nicht in der Einheitssprache Romantsch Grischun aufgehen lassen
Die fünf Dialekte des Rätoromanischen in einem Satz aus der Fabel vom Fuchs und dem Raben
Die fünf Dialekte des Rätoromanischen in einem Satz aus der Fabel vom Fuchs und dem Raben
© Nach Wikipedia / zusammengestellt von D. Marszk
Zürich (Schweiz) - Die vierte Landessprache der Schweiz, das Rätoromanische, wird nicht einmal mehr von 1 Prozent der Schweizer Bevölkerung gesprochen. Zur Erhaltung der Sprache wurde daher vor fast 30 Jahren die Einheitsschriftsprache Romantsch Grischun geschaffen, damit die fünf Dialekte des Rätoromanischen zumindest eine einheitliche Schriftsprache haben. Doch neueste sprachsoziologische Untersuchungen von Schweizer Linguisten zeigen, dass die meisten Rätoromanen der Einheitsschriftsprache sehr skeptisch gegenüberstehen. Auch die in der Schule geplante Ablösung der rätoromanischen Dialekte durch das Romantsch Grischun wird abgelehnt.

Erstmals seit Einführung des Romantsch Grischun sind die Forscherinnen Renata Coray und Barbara Strebel von der Universität Zürich jetzt der Frage nachgegangen, wie die Rätoromanen zu einer Einheitsschriftsprache stehen. Diese war 1982 als Spracherhaltungsmaßnahme von der rätoromanischen Dachorganisation Lia Rumantscha eingeführt worden.

Es ergab sich, dass die 31 Befragten ihre rätoromanische Erstsprache mit einem hohen emotionalen Wert verbinden: Sie bezeichnen Rätoromanisch als wichtigste Sprache der alltäglichen mündlichen Kommunikation und räumen ihm in der Familien- und Dorfgemeinschaft einen großen Stellenwert ein. Auffallend ist die Ablehnung des Romantsch Grischun durch die Mehrheit der Befragten. Da sie nur sehr selten Rätoromanisch schreiben und lesen, sehen viele keinen Vorteil in dieser neuen Schriftsprache. Ein überregionales romanisches Wir-Bewusstsein der heute noch etwa 60.000 Rätoromanisch-Sprecher ist entsprechend schwach entwickelt, so die Forscherinnen. Die Befragten identifizieren sich in erster Linie mit dem eigenen Dorf oder Tal, weniger mit einer gesamträtoromanischen Sprachgruppe. Direkte Kontakte über den eigenen Dialekt hinaus kommen selten vor. Die kulturellen Anlässe von rätoromanischen Organisationen, welche die eigene Identität fördern sollen, stoßen auf wenig Interesse. Auch bei rätoromanischen Radio- und Fernsehsendungen ziehen die Befragten die Verwendung der einzelnen Dialekte dem Romantsch Grischun vor. Die geplante Ablösung der rätoromanischen Regionalschriftsprachen durch Romantsch Grischun in der Schule wird von vielen abgelehnt. Auch andere sprachpflegerische Maßnahmen wie etwa rätoromanische Beschriftungen stoßen auf geringe Resonanz.

Da viele Orte und Täler des Kantons Graubünden, in dem das Rätoromanische noch gesprochen wird, bis vor wenigen Jahrzehnten noch sehr abgeschieden waren, haben sich verschiedene Mundarten gebildet, die sich in fünf Dialektgruppen zusammenfassen lassen: Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Puter und Vallader. Zu jedem dieser Dialekte hat sich eine Regionalschriftsprache herausgebildet. Obwohl das Rätoromanische zur Familie der romanischen Sprachen gehört und besonders dem Italienischen nahe steht, ist die erste Fremdsprache der Rätoromanen nicht Italienisch, sondern Deutsch. Allerdings ist der Erwerb des Deutschen - sowohl die Schriftsprache wie auch das Schweizerdeutsche - für die Rätoromanen sehr mühsam. Für viele stellt der Erwerb des Deutschen eine große Hürde dar, wenn es darum geht, sich in dem vom Schweizerdeutsch geprägten Berufsleben zu behaupten. Dennoch - auch das haben die Forscherinnen herausgefunden - nehmen die Rätoromanen für neue Dinge lieber deutsche Lehnwörter als eigens konstruierte rätoromanische Neuschöpfungen.

© Wissenschaft aktuell
Quelle: Nationales Forschungsprogramm "Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz" - Schlussbericht: Rätoromanische Sprachbiographien: Sprache, Identität und Ideologie in Romanischbünden,
im Internet unter: http://www.snf.ch/SiteCollectionDocuments/medienmitteilungen/mm_091124_schlussbericht.pdf


 

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