Energiereporter: Trotz Erdbeben treiben Schweizer Geothermieprojekt voran

Pilotanlage fördert sowohl heißes Wasser als auch Erdgas - Versorgung von etwa 4000 Haushalten geplant - Mitsprache von Bürgern möglich
Erdgas aus der Geothermiebohrung in St. Gallen wird abgefackelt
Erdgas aus der Geothermiebohrung in St. Gallen wird abgefackelt
© T. Bloch, St. Galler Stadtwerke
St. Gallen (Schweiz) - Genug Wärme und Strom für etwa 4.000 Haushalte aus der Tiefe der Erde: Dieses Ziel verfolgt die Stadt St. Gallen mit einer 4378 Meter tiefen Geothermiebohrung. Doch erschütterte am 20. Juli 2013 ein Beben der Magnitude 3,6 die schweizerische Stadt wenige Kilometer südlich vom Bodensee. Schuld war unter Hochdruck verpresstes Wasser, das einen unerwarteten Gasausbruch stoppen sollte. Trotz vieler Ängste entschied der Stadtrat Ende August: Weitermachen. Nun fördert die Anlage testweise heißes Wasser und zugleich wertvolles Erdgas. Wandelt sich der Fluch gar zum Energiesegen für die 74.000 Einwohner-Stadt?

„Seit Tagen brennt die Gasfackel unregelmässig lang, aber mit einer bis zu zwölf Meter hohen Flamme“, sagt Thomas Bloch (34), Geologe und einer von vier Projektleitern des ambitionierten Erdwärme-Projekts. Zeitgleich messen die Forscher neben der Gasmenge die Förderrate des Tiefenwassers, das kochend heiß aus dem Bohrloch an die Oberfläche gelangt. Mittlerweile sind diese Produktionstests abgeschlossen, der 80 Meter hohe Bohrturm wird bis Ende November abgebaut und das Bohrloch vorübergehend versiegelt. Während dieser Testphase klagten einige Anwohner über den Gestank nach faulen Eiern. Der Grund dafür lag wahrscheinlich in schwefelhaltigen Verbindungen, die mit dem geförderten und in einem Auffangbecken gespeicherten Wasser an die Oberfläche gelangte.

„Nun geht es bis Ende des Jahres an die Auswertung der Daten“, sagt Bloch. Wenn die Bohrung aus die vier Kilometer tiefen und bis zu 140 Grad heißen Gesteinsschicht mindestens 50 Liter heißes Wasser pro Sekunde liefert, lohnt sich der Ausbau zu einem kompletten Erdwärme-Kraftwerk. Ob sich das Projekt gleichzeitig als lukrative Gasquelle entpuppt, kann Bloch heute noch nicht sagen. Ausgeschlossen ist es jedenfalls nicht. Die Reinheit des austretenden Erdgases zeigte sich jedenfalls überraschend hoch.

Großes Potenzial für die gesamte Region der Voralpen

Nicht nur in St. Gallen erwarten die Bohrexperten, der Stadtrat und die Bürger die Förderdaten mit Hochspannung. Für die gesamte Geothermie-Branche Mitteleuropas kann sich dieses Projekt zu einer Nagelprobe entwickeln. Denn der Untergrund im ausgedehnten Molassebecken der Voralpen, das sich vor bis zu 34 Millionen Jahren mit Sedimenten füllte, schlummert ein hohes geothermisches Potenzial. Einige ältere Anlagen in Bayern, wie beispielsweise in Unterhaching, nutzen dieses auch schon.

Im Mittelpunkt steht allerdings die Gefahr von Erdbeben, bei denen schon vorhandene Spannungen im Tiefengestein durch die Einleitung von Wasser ausgelöst werden können. So bedeutete ein Beben der Magnitude 3,4 für ein Geothermie-Projekt in Basel im Dezember 2006 das Aus. Die Zweifel an der Sicherheit der Tiefengeothermie wuchsen. Ein schweres Beben in St. Gallen wäre für die Branche eine Katastrophe. Denn den Bohrplatz im Sittertobel – dem Flußtal der Sitter - trennen gerade mal zehn Autominuten von der St. Galler Innenstadt mit der weltberühmten Stiftsbibliothek, die seit 1983 auf der Weltkulturerbeliste der Unesco steht. Das Beben im Sommer dieses Jahres verursachte kleinere Schäden an Gebäuden und Infrastruktur. 277 Schäden wurden insgesamt gemeldet, der Großteil davon an Gebäuden. Die Kosten summierten sich auf etwa 50.000 Franken. Bei einem stärkeren Beben wären die Folgekosten sicher um ein Vielfaches höher.

„Ich sehe für das St. Gallen-Projekt sehr gute Chancen“, sagt Prof. Ernst Huenges, Leiter der Geothermieforschung am Geoforschungszentrum in Potsdam (GFU). „Dort gehen die Verantwortlichen sehr vernünftig und offen mit den Risiken um. Seismizität, die ja nichts mit der Geothermie an sich zu tun hat, muss nicht zum Projektabbruch führen.“ Das weitere Vorgehen der St. Galler scheint diese Vernunft zu bestätigen. So werden vom Projekt unabhängige Experten in den kommenden Monaten eine detaillierte Risikoanalyse für Erdbeben in der Region erstellen. Zusammen mit den Förderdaten wird diese Studie eine stichhaltige Grundlage liefern, um fundiert über die Zukunft des Erdwärme-Kraftwerks entscheiden zu können.

Werden die Bürger abermals befragt?

Dabei ist es sicherlich von Vorteil, dass kein großer Energiekonzern hinter dem Bohrungen im St. Galler Sittertobel steht. Die Bürgerinnen und Bürger selbst haben 2010 mit einer Mehrheit von über 82-Prozent zugestimmt, dass die Stadt St. Gallen einen Kredit von 159 Millionen Schweizer Franken für das Geothermieprojekt aufnimmt. „Knapp 40 Millionen Franken sind bisher in die Vorerkundungen und die erste Bohrung geflossen und notfalls müsste diese Summe bei einem Misserfolg abgeschrieben werden“, sagt Bloch. Seit dem Bürgerentscheid hält der sechsköpfige Stadtrat das Heft in der Hand und auch nach dem Juli-Beben an dem Projekt fest. Trotz aller Bedenken ist der Rückhalt in der Bevölkerung noch sehr groß. Ob nach der Auswertung von Förderdaten und Bebenrisiko wieder der Stadtrat allein entscheidet, steht noch nicht fest. „Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Bürgerinnen und Bürger von St. Gallen erneut gefragt werden“, sagt Bloch. Dieses Vorgehen hätte den großen Vorteil, dass das Projekt nicht an den Bürgern vorbei weitergeführt würde.

Der Geologe hofft sehr, dass das Projekt Mitte kommenden Jahres in die nächste Phase eintreten kann. Dann würde das schon gebohrte und mit Beton über fast die gesamte Länge befestigte Loch wieder geöffnet und eine zweite Bohrung abgeteuft werden. Das ist nötig, um heißes Wasser kontinuierlich zu fördern und abgekühltes Wasser wie in einem Kreislauf wieder in den Boden zu leiten. Die derzeitige Planung geht von einem Start des Kraftwerks im Herbst 2015 aus. Wann sich die Investitionen in das Geothermie-Kraftwerk amortisieren, hängt sowohl von der Förderrate als auch der Temperatur des Wassers ab. Hierbei müsse man jeden Standort ganz individuell betrachten, sagt Bloch, der sich auf keine Jahreszahl festlegen lassen will. „Wir sind als Pilotprojekt nicht mit dem Ziel Armortisation angetreten, sondern wollen im Betrieb mindestens eine schwarze Null schreiben, also aus Geothermie wirtschaftlich Strom und Wärme produzieren.“ Wenn zudem noch nennenswerte Gasmengen gewonnen werden könnten, ließe sich dieses Ziel sogar noch schneller erreichen.

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